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  • AutorenbildWalter Gasperi

Maigret


Patrice Leconte lässt Gerard Depardieu als Kommissar Maigret im Fall einer jungen Toten ermitteln: Ein langsam erzählter, tiefmelancholischer, aber wunderbar runder Krimi, der mehr auf Atmosphäre und Figurenzeichnung als auf Action setzt.


Neben dem Briten Sherlock Holmes, dem Belgier Hercule Poirot und dem Amerikaner Philip Marlowe ist George Simenons Kommissar Maigret wohl der berühmteste Ermittler der Literaturgeschichte. Zwischen 1931 und 1972 schrieb Simenon 75 Romane und 28 Erzählungen mit diesem stets Pfeife rauchenden Pariser Kommissar als Hauptfigur.


Schon früh setzte die filmische Rezeption ein. 1932 verfilmte Jean Renoir mit seinem Bruder Pierre Renoir in der Hauptrolle "La nuit du carrefour" und noch im selben Jahr entstand mit "Le chien jaune" ein weiterer Maigret-Film. Nach dem zweiten Weltkrieg spielte Charles Laughton ebenso Simenons berühmteste Figur wie in drei Filmen Jean Gabin und 1966 Heinz Rühmann in "Maigrets größter Fall". Ab den 1960 Jahren entstanden auch immer wieder Fernsehserien, von denen wohl die französischen am bekanntesten ist, in denen Jean Richard zwischen 1967 und 1990 88 mal und Bruno Cremer zwischen 1991 und 2005 54 mal Maigret spielten.


Patrice Leconte verfilmte schon 1990 mit "Die Verlobung des Monsieur Hire" einen Roman von Georges Simenon. Kommissar Maigret kommt darin aber nicht vor. Mit Filmen wie "Der Mann der Friseuse" (1990), "Die Frau auf der Brücke" (1999) und "Intime Freunde" (2004) erwies sich der 1947 geborene Regisseur, der 1997 für "Ridicule – Von der Lächerlichkeit des Scheins" (1996) für den Oscar nominiert wurde, als Spezialist für visuell brillante, sehr französische Filme, die auf die Psychologie der Figuren fokussieren.


Letzteres bestimmt auch seine Verfilmung von Simenons 1954 erschienenem Roman "Maigret und die junge Tote", mit der Leconte sich neun Jahre nach der Komödie "Nur eine Stunde Ruhe"" (2014) im Kino zurückmeldet. Mit Gérard Depardieu hat er dabei einen idealen Hauptdarsteller gefunden und bietet dem französischen Star auch eine große Bühne.


Körperlich angeschlagen ist dieser Koloss von einem Mann. Den Vorspann unterschneidet Leconte einerseits mit einer Untersuchung Maigrets beim befreundeten Gerichtsmediziner, andererseits mit einer schüchternen jungen Frau, die in einem Geschäft ein Abendkleid anprobiert, in dem sie eine Festgesellschaft besucht, auf der es zur Auseinandersetzung mit den Gastgebern kommt.


Mit Ende des Vorspanns erhält Maigret den Befund des Arztes, dass er nichts Schwerwiegendes feststellen kann. Er empfiehlt Maigret aber aufs Rauchen zu verzichten. So spielt der Film zwar immer wieder mit der Pfeife als sonst unerlässlichem Begleiter des Kommissars, doch dieser nimmt sie nur einmal in den Mund, um seinem Kollegen zu zeigen, wie man richtig raucht.


Sichtbar wird im Gespräch aber auch die tiefe Melancholie Maigrets. Ganz im Gegensatz zur Körperfülle Depardieus erklärt er nämlich, den Appetit verloren zu haben und nur aus Notwendigkeit zu essen. So wird in den folgenden knapp 90 Minuten seine Frau zwar mehrfach für ihn aufkochen oder er wird eine junge Frau in einem Restaurant zum Essen einladen, aber ihn selbst sieht man nie essen.


Verstärkt wird dieses Gefühl der Melancholie durch die Langsamkeit, mit der er durch die Gassen wankt, und den schweren Atem, mit dem er sich die Stiegen hinaufquält. Aber auch die winterlich kahle Landschaft, die gedeckten dunklen Farben und ein mattes Licht (Kamera: Yves Angelo) evozieren zwar nicht eine beklemmende, aber eine doch bedrückende und freudlose Atmosphäre. Auf jedes Paris-Sightseeing wird folglich auch verzichtet. In jeder beliebigen anderen französischen Stadt der 1950er Jahre könnte "Maigret" spielen.


Vergänglichkeit und Vergeblichkeit durchwehen diesen Film, wenn der Fall einer toten jungen Frau bei Maigret die Erinnerung an eine nur kurz angedeutete familiäre Tragödie weckt, oder wenn der wunderbare André Wilms als litauischer Jude in seinem Antiquariat erzählt, dass er seine ganze Familie durch den Holocaust verloren hat.


Auf Action kann Leconte getrost verzichten. Er beschränkt sich darauf, Maigret bei seinen Ermittlungen zu folgen. Viel Zeit benötigt dieser dabei schon mit der Eruierung der Identität der Toten und fokussiert dann langsam auf einer reichen Familie, zu der die Tote in Beziehung gestanden zu sein scheint.


Die Ermittlungen lassen Kommissar und Publikum so in unterschiedliche Milieus eintauchen. Einfühlsam erzählt Leconte so von jungen Frauen, die der Traum von Freiheit, Karriere und Glück nach Paris treibt, dort aber oft in Nachtclubs oder sogar auf der Straße enden. Dem gegenüber steht wieder die begüterte Familie, die aber auch wieder alles andere als glücklich zu sein scheint.


So zurückhaltend wie Depardieu spielt, so zurückhaltend inszeniert auch Leconte. Wie sich Maigret darauf beschränkt genau zuzuhören, beschränkt sich der Regisseur darauf genau hinzusehen und mit Ausstattung, Kostümen, Kamera und seiner langsamen Erzählweise atmosphärisch dicht eine Welt von Gestern zu beschwören, in der Lebensträume zerplatzen und das Glück verloren ist.


Bewusst altmodisches Kino ist das, aber wunderbar rundes und geschlossenes. Tiefe Einsamkeit breitet sich hier schließlich auch aus, wenn Maigret in einer Totalen allein in einer weiten Bushalle steht, und die Vergänglichkeit bringt Leconte auf den Punkt, wenn sich der Kommissar in der letzten Einstellung mittels Überblendung förmlich auflöst und eine leere Seitenstraße zurückbleibt.

Maigret Frankreich 2022 Regie: Patrice Leconte mit: Gérard Depardieu, Mélanie Bernier, Jade Labeste, Aurore Clément, André Wilms, Hervé Pierre, Clara Antoons, Pierre Moure, Bertrand Poncet, Anne Loiret Länge: 88 min.



Derzeit in den österreichischen und deutschen Kinos, z.B. im Cinema Dornbirn


Trailer zu "Maigret"



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