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Les filles d´Olfa - Olfas Töchter

Autorenbild: Walter GasperiWalter Gasperi

Dokumentarisches und Inszeniertes fließen ineinander, wenn die Tunesierin Kaouther Ben Hania die Geschichte Olfa Hamrounis und ihrer vier Töchter nachzeichnet: Ein ungewöhnlicher Hybrid, der Folgen der Gewaltübertragung in einer patriarchalen Gesellschaft aufzeigt, aber auch von Schwesternschaft und Adoleszenz erzählt und gleichzeitig als therapeutische Sitzung fungiert.


Die Tunesierin Olfa Hamrouni wurde 2016 im ganzen Land bekannt, als sie in den Medien die Regierung heftig dafür kritisierte, dass nichts dagegen unternommen wird, dass sich junge Tunesier:innen dem IS anschließen. Schon damals wurde Kaouther Ben Hania, der zuletzt mit "The Man Who Sold His Skin" ein für den Oscar nominierter Arthouse-Erfolg gelang, auf Olfa aufmerksam, doch der Plan einen Dokumentarfilm mit ihr zu drehen scheiterte.


Sechs Jahre später nahm Ben Hania das Projekt wieder auf und vermischt nun durchgängig Dokumentarfilm und Spielfilm, wenn einerseits Olfa und deren zwei jüngere Töchter sich selbst spielen, andererseits Olfa in besonders bedrückenden und belastenden Szenen von der tunesischen Schauspielerin Hend Sabri und auch die beiden abwesenden älteren Töchter von zwei Schauspielerinnen verkörpert werden.


Immer wieder wird aber auch der Vorgang des Filmens präsent gemacht, wenn die Charaktere beispielsweise die Regisseurin direkt ansprechen und vielfach weniger miteinander als vielmehr direkt in die Kamera sprechen und so die vierte Wand durchbrechen. Statt einer involvierenden Schuss-Gegenschuss-Technik dominieren so auch Schwenks, mit denen quasi von außen auf das Geschehen und dieses scheinbar objektiv dokumentiert wird.


Weitgehend einziges Setting ist ein altes Hotel in Tunis, in dem Olfa, ihre zwei jüngeren Töchter und die Darstellerinnen der beiden älteren Töchter bald auf einer Couch sitzen und über ihre Geschichte reflektieren, bald auch Szenen aus ihrem Leben nachspielen. Weiteres Mittel, um den Illusionscharakter zu brechen, besteht darin, dass in diesem Frauenfilm alle der wenigen Männerrollen vom gleichen Schauspieler gespielt werden. Unübersehbar ist insgesamt auch, dass Ben Hania "Les filles d´Olfa" quasi als therapeutische Sitzung angelegt hat, bei der durch Aufarbeitung der Vergangenheit auch Traumata gelöst werden sollen.


Die 47-jährige Regisseurin spannt den Bogen dabei in diesem Hybrid von Olfas erster Ehe in den 1990er Jahren über die Geburt der vier Töchter zwischen 1998 und 2005, Scheidung und ein kurzes Glück mit einem neuen Geliebten bis zur Gegenwart. Die private Geschichte wird dabei durch Archivmaterial von der Tunesischen Revolution 2011 über Proteste gegen die Liberalisierung 2013 bis zum wachsenden IS-Terrorismus in einen gesellschaftlich-politischen Kontext eingebettet.


Eindrücklich wird in der detaillierten Nachzeichnung sichtbar, wie eigene Gewalterfahrungen an die nächste Generation übertragen werden. Denn die Schläge, die Olfa einst selbst erhalten hat, gibt sie als Mutter wieder an ihre beiden älteren Töchter wegen ihres zu freizügigen Lebenswandels weiter. Gleichzeitig führen diese Misshandlung und Züchtigung bei den Töchtern aber wiederum nur zu einer massiveren Protesthaltung, die sich in religiösem Fundamentalismus äußert, der zum Zerbrechen der Familie führen wird.


Aber die Erzählungen der jüngeren Schwestern machen auch die enge Beziehung zu den älteren, die für sie immer Vorbilder waren, sichtbar. Gegensätze prallen dabei immer wieder aufeinander, wenn sie einerseits in leuchtend rotem Kleid und geschminkt auf der Couch sitzen, man sie andererseits aber wieder mit einem Niqab bis auf einen Gesichtsschlitz verschleiert sieht.


So bedrückend aber auch die zentrale Geschichte vom Verschwinden der beiden älteren Töchter ist, so gibt es doch auch immer wieder humorvolle Momente. Unbekümmert und mit Witz sprechen so die Schwestern über ihre Adoleszenz und auch der Plan einer Schwester, sich für eine Nacht lebendig begraben zu lassen, sorgt für Komik.


Auch die nächste Generation bringt Ben Hania dabei schließlich ins Spiel, wenn sie ihren Film mit dem Blick der etwa fünfjährigen Tochter von Olfas ältester Tochter enden lässt: Unweigerlich wirft dieses Schlussbild die Frage auf, wie sich die frühkindlichen Erfahrungen dieses Mädchens auf seine weitere Entwicklung auswirken werden und ob sich der Kreislauf der Gewaltübertragung wiederum fortsetzen wird.



Les filles d´Olfa – Olfas Töchter Frankreich / Tunesien / Deutschland / Saudi-Arabien / Zypern 2023 Regie: Kaouther Ben Hania mit: Olfa Hamrouni, Tayssir Chikhaoui, Eya Chikhaoui, Hend Sabri, Ichraq Matar, Nour Karoui, Majd Mastoura, Zine El-Abidine Ben Ali Länge: 107 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.


Trailer zu "Les filles d´Olfa - Olfas Töchter".



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