War es eine Vergewaltigung oder einvernehmlicher Sex? – Angelehnt an den "Fall Stanford" diskutiert Yvan Attal diese Frage in seinem Gerichtsdrama packend und vielschichtig durch Perspektivenwechsel, bei dem das Urteil dem Publikum überlassen wird.
Großes Medieninteresse erzeugte der Fall des 21-jährigen Studenten Brock Turner, der im Januar 2015 bei einer Party an der kalifornischen Eliteuniversität Stanford eine bewusstlose junge Frau vergewaltigte. Turner wurde angezeigt und verurteilt. Für Aufsehen sorgte das geringe Strafausmaß von sechs Monaten Haft und drei Jahren Bewährung und, dass Turner nach nur drei Monaten wegen guter Führung entlassen wurde.
Kritisiert wurde nicht nur die Verharmlosung sexueller Gewalt durch das milde Urteil, sondern auch, dass dieses wohl dem Umstand zuzuschreiben war, dass Turner der weißen Oberschicht angehörte. Scharfe Proteste rief aber auch ein Brief seines Vaters an den Richter hervor, in dem er die Strafe als zu hart bezeichnete und von einer "20 Minuten Aktion" sprach, die das Leben des Sohnes zerstöre. Als Reaktion verfasste das Opfer einen Brief an Turner, in dem sie ihn mit den Auswirkungen seiner Tat konfrontierte.
Anngelehnt an diesen Fall veröffentlichte die französisch-tunesische Schriftstellerin Karine Tuil 2019 den Roman "Les choses humanies", der Yvan Attal als Vorlage für seinen siebten Spielfilm diente. Bislang vor allem bekannt für Komödien legt Attal damit erstmals ein konsequentes Drama vor, gleichzeitig weitet er gegenüber der Vorlage, in der die Ereignisse fast ausschließlich aus der Sicht der Familie des Täters geschildert werden, das Bild, indem er auch der Perspektive des Opfers Raum gibt.
Attal lässt den Film mit der Ankunft des 22-jährigen Alexandre Farel (Ben Attal) in Paris beginnen. Nur kurz ist der Musterstudent vom kalifornischen Stanford in seine Heimat zurückgekehrt, um der Verleihung eines Ordens an seinen Vater (Pierre Arditi) beizuwohnen. Während dieser nicht nur ein bekannter TV-Moderator, sondern auch ein Womanizer ist, der immer wieder jüngere Frauen verführt, ist Alexandres Mutter (Charlotte Gainsbourg) Journalistin und Feministin, die bei einer Fernsehdiskussion gerechte und harte Bestrafung auch für migrantische Vergewaltiger fordert.
Wie schaut aber das Verhalten der Eltern aus, wenn der eigene Sohn einer Vergewaltigung beschuldigt wird? Ausgerechnet die 17-jährige Tochter (Suzanne Jouannet) des neuen Lebenspartners (Mathieu Kassovitz) der Mutter nimmt Alexandre nämlich am Abend mit auf eine Party. Was dann passiert lässt Attal vorerst offen. Am nächsten Morgen steht aber die Polizei vor der Wohnung der Farels und Alexandre wird verhaftet: Mila hat ihn wegen Vergewaltigung angezeigt. – Alexandre dagegen besteht beim Verhör darauf, dass der Sex einvernehmlich gewesen sei.
Erzählt Attal, der die Rolle von Alexandre mit seinem eigenen Sohn Ben Attal und die von Alexandres Mutter mit seiner Gattin Charlotte Gainsbourg besetzte, zunächst im Kapitel "Lui – Er" konsequent aus der Perspektive Alexandres und seiner Familie, so folgt mit dem Kapitel "Elle – Sie" die Perspektive Milas. Auch hier bleibt die Party ausgespart, erst im letzten und längsten Abschnitt, der sich dem Prozess widmet, bieten Rückblenden Einblick in die fragliche Nacht.
Diese Szenen sind nicht nur durch enges Bildformat und grobkörnigen 16-mm-Film vom restlichen, in Cinemascope gedrehten Film abgehoben, sondern unterscheiden sich auch dadurch, dass hier unbestrittene Fakten im Zentrum stehen, während die Breitwandszenen jeweils von persönlicher Wahrnehmung bestimmt sind. Die zentrale Tat spart Attal dabei auch in den Rückblenden aus, überlässt so die Entscheidung, ob es eine Vergewaltigung war oder einvernehmlich dem Publikum.
Spannung entwickelt so "Les Choses humaines" nicht nur durch die dichte, ganz auf den Vorfall konzentrierte Inszenierung, sondern vor allem an den an Akira Kurosawas "Rashomon" angelehnten Perspektivenwechsel, mit dem zuletzt auch Ridley Scott in seinem im Mittelalter spielenden Vergewaltigungsdrama "The Last Duel" arbeitete.
Während bei Scott aber die Sachlage am Ende klar ist, bleibt sie bei Attal im Zwielicht. Geschickt weitet der Franzose auch das Bild mit den unterschiedlichen sozialen Milieus von Opfer und Täter. Denn während für den liberalen und weltgewandten Alexandre ein One-Night-Stand zum Alltäglichen gehört, hat die orthodox-jüdisch erzogene Mila kaum sexuelle Erfahrungen: Wieso ging sie also ganz eindeutig freiwillig nachts mit Alexandre in einen Abstellraum? Was erwartete sie sich dort? Konnte Alexandre aus seiner Perspektive ihren Widerstand erkennen, obwohl sie nie "Nein" oder "Stopp" sagte?
So erzählt "Les Choses humaines" nicht nur von einer nahezu unmöglichen Wahrheitsfindung, sondern vor allem auch, wie die eigene Wahrnehmung, die wiederum aus der jeweils eigenen Sozialisation resultiert, das Verhalten bestimmt. Wenn dabei zutage tritt, dass Alexandre Mila im Rahmen einer Mutprobe verführte – oder eben vergewaltigte – macht das den Studenten zwar unsympathisch und sein Verhalten moralisch verwerflich, doch zum Vergewaltiger macht es ihn noch nicht.
Nüchtern inszeniert Attal, der die schnörkellosen Filme von Sidney Lumet als Vorbild nennt, diesen Prozess. Aber durch konzentrierte Inszenierung und die intensiven schauspielerischen Leistungen entwickeln diese Gerichtsszenen nicht nur große Dichte, sondern erzeugen durch die Dominanz von langen Großaufnahmen, die in Kontrast zum Cinemascope-Format stehen, auch eine beklemmende Enge.
Doch Attal lotet nicht nur differenziert und ambivalent die Tat und die Charaktere aus, sondern zeigt auch, wie Anklage und Prozess das Leben der Eltern beeinflussen. Da zerbricht nicht nur die Beziehung von Alexandres Mutter und Milas Vater, sondern in einem medialen Zeitalter erleidet auch der Ruf der Eltern Schaden.
Wie aus der Zeit gefallen wirkt dabei freilich der Vater, der auch in Zeiten von #metoo in Anlehnung an den Fall Stanford von "20 Minuten Aufregung", die die Zukunft seines Sohnes ruinierten, spricht. – Aber auch wenn Attal die Folgen der Tat für Alexandre ausführlich zeigt, so verharmlost er Gewalt gegenüber Frauen dennoch nicht, denn immer erscheint auch Mila als das eigentliche Opfer.
Les Choses humaines Frankreich 2021 Regie: Yvan Attal mit: Ben Attal, Suzanne Jouannet, Charlotte Gainsbourg, Pierre Arditi, Mathieu Kassovitz, Audrey Dana, Benjamin Lavernhe, Judith Chemla Länge: 138 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.
Trailer zu "Les Choses humaines - Menschliche Dinge"
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