Eine hochbegabte Mathematikerin will nach einem wissenschaftlichen Fehler von einem Tag auf den anderen ihr Leben komplett umstellen: Mit einer großartigen Ella Rumpf in der Hauptrolle erzählt Anna Novion solide und unterhaltsam, aber auch sehr stromlinienförmig von einem Neustart und einer Wandlung.
Mit Hornbrille, zurückgebundenen Haaren, unsicherem Gang und verschlossenem Auftritt entspricht die 25-jährige Mathematikerin Marguerite Hoffmann (Ella Rumpf) zwar dem Klischee dieser Berufsgruppe, doch die schweizerisch-französische Schauspielerin kann mit ihrer Präsenz dennoch rasch Interesse für diese Figur wecken.
Marguerite ist Musterstudentin an der Pariser Top-Universität École normale supérieure (ENS) und bietet schon im einleitenden Interview für einen Newsletter der Uni Einblick in ihre Persönlichkeit und ihr Leben: Nur für die Mathematik lebt sie, ihr einziger sozialer Kontakt scheint ihre Mutter zu sein, die an einer Mittelschule Mathematik unterrichtet.
Umso irritierter ist Marguerite, als sie erfährt, dass ihr Doktorvater Professor Werner (Jean-Pierre Darroussin) mit Lucas (Julien Frison) neben ihr einen weiteren Dissertanten angenommen hat. Gesteigert wird ihre Verunsicherung dadurch, dass Werner für ihre Fragen kaum mehr Zeit hat, obwohl die Präsentation ihrer Forschungsergebnisse zur Goldbachschen Vermutung unmittelbar bevorsteht.
Dennoch läuft bei diesem Auftritt zunächst alles bestens, auch die ersten Fragen aus dem internationalen Fachpublikums kann sie sicher beantworten. Doch dann meldet sich ausgerechnet Lucas zu Wort und macht sie auf einen Fehler aufmerksam, der ihr ganzes Gedankengerüst einstürzen lässt. Betroffenes Schweigen breitet sich im Saal aus, Marguerite aber beschließt ihr bisheriges Leben abzubrechen, die Mathematik hinter sich zu lassen und ganz neu zu beginnen.
Eindrücklich vermittelt Anna Novion, wie entschlossen und geradezu verbissen Marguerite kämpft, um sich in diesem männlich dominierten akademischen Milieu zu behaupten. Zurückversetzt fühlt sie sich von ihrem Doktorvater und offen bleibt, inwieweit dessen Agieren auch von traditionellem Geschlechterdenken bestimmt ist.
Marguerites Verhalten zeigt aber auch autistische Züge. Alles hat sie ihrer Obsession geopfert, auf jedes Sozialleben verzichtet. Wesentlich lockerer agiert dagegen ihr Konkurrent Lucas, der erst vor kurzem aus Oxford an die Uni gekommen ist, aber sogleich Kontakt findet und in einer Brassband Trompete spielt.
Man spürt im Spiel Ella Rumpfs, wie schwer der Fehler bei der Präsentation Marguerite trifft. Radikal ist ihre Reaktion, wenn sie nun von einem Tag auf den anderen nichts mehr mit Mathematik zu tun haben will, auch den Kontakt zu ihrer Mutter abbricht, zunächst im Hotel übernachtet, dann in der Wohnung einer Tänzerin ein Zimmer mietet und einfache Jobs bei Meinungsumfragen oder als Verkäuferin annimmt. – Doch kann man auf Dauer eine über Jahre gepflegte Obsession so einfach von sich schieben?
Wie bei Marguerite durch die Freundschaft mit der Tänzerin und das neue Milieu etwas in Bewegung kommt, so halten auch in das zunächst sehr ernste Drama zunehmend humorvolle und witzige Momente Einzug und schließlich darf auch noch eine Wendung zur Romanze nicht fehlen.
Sicher meistert Anna Novion diese Wechsel der Tonlagen, erzählt bruchlos und rund, allerdings auch sehr stromlinienförmig und glatt. Ihr größter Trumpf ist neben dem soliden Drehbuch, das Novion zusammen mit Agnès Feuvre, Marie-Stéphane Imbert und Mathieu Robin schrieb, Ella Rumpf. Ganz aus ihrer Perspektive wird diese Geschichte eines tiefen Sturzes und einer langsamen Wiedergeburt erzählt.
Großartig versteht es Rumpf den Wandel Marguerites von der verschlossenen Mathematikerin zur zunehmend weltoffenen jungen Frau zu vermitteln. Dass dabei die emotionale Instabilität auch später nochmals durchbricht, sorgt einerseits für eine Wendung in der Handlung, zeigt andererseits aber auch, wie schwierig diese Entwicklung ist. Gleichzeitig zeigt Novion aber auch, wie erst durch diese Öffnung und Lockerheit ein neuer Zugang zur alten Obsession gewonnen werden kann, und wie dadurch und durch die neue Fähigkeit zum Teamwork auch knifflige Probleme gelöst werden können.
Auch wenn dabei immer wieder Tafeln und Wände mit mathematischen Formeln voll gekritzelt werden, bleibt "Le Théorème de Marguerite" auch ohne Fachkenntnisse spannend. Denn letztlich geht es nicht um die Wissenschaft, sondern um das persönliche Schicksal, dem man trotz solider, aber wenig aufregender Inszenierung vor allem dank Rumpfs Spiel bis zum Ende interessiert folgt.
Le Théorème de Marguerite Frankreich / Schweiz 2023 Regie: Anna Novion mit: Ella Rumpf, Jean-Pierre Darroussin, Julien Frison, Clotilde Courau, Sonia Bonny, Xiaoxing Cheng, Idir Azougli, Camille de Sablet Länge: 112 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen
Trailer zu "Le Théorème de Marguerite"
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