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  • AutorenbildWalter Gasperi

La hija de todas las rabias


Laura Baumeister verbindet in ihrem Spielfilmdebüt sozialrealistische Schilderung des Lebens um die größte Mülldeponie Nicaraguas mit einer bewegenden Mutter-Tochter-Beziehung.


In Nicaragua gibt es im Grunde keine Filmindustrie und keine öffentlichen Gelder für unabhängiges Filmschaffen. Wie schwierig die Finanzierung von Laura Baumeisters Langfilmdebüt gewesen sein muss, macht die lange Liste von internationalen Koproduzenten im Vorspann deutlich. Dem Film aber sieht man diese finanziellen Probleme nicht an, denn bestechend ist die Bildsprache, sicher die Erzählweise und stark Ara Alejandra Medal, die schließlich aus 300 Mädchen für die Rolle der elfjährigen Maria ausgewählt wurde.


Inspiriert wurde Baumeister zu ihrem Film von Kindern, die auf der real existierenden Müllhalde "La Chureca" leben. Mit Totalen wird dieser bei der Hauptstadt Managua gelegene Schauplatz eingeführt. Während ein Krankenwagen vor aufgehender Sonne Müllsäcke, in denen sich offensichtlich Leichenteile befinden, entsorgt, erheben sich Kinder aus dem Müll und beginnen die Halde nach Verwert- und Verkaufbarem zu durchstöbern.


Aus der Gruppe greift Baumeister die kleine Maria (Ara Alejandra Medal) heraus, die bald zu einer in der Nähe dieses Unorts gelegenen Wellblechhütte aufbricht, in der sie mit ihrer Mutter Lilibeth (Virginia Sevilla) lebt. Im Radio wird von einem Gesetz zur Privatisierung der Müllabfuhr berichtet, das die Arbeitsmöglichkeiten und das Leben der Müllmenschen erschwert.


Liebevoll gehen Maria und ihre Mutter miteinander um. Man spürt das Nahverhältnis, doch zu Konflikten führt immer wieder Marias Fürsorge für die fünf Welpen, deren Verkauf schon beschlossen ist. Dringend benötigt wird das Geld nämlich, um das desolate Dach der Hütte reparieren zu lassen. Doch dann platzt der Deal und die Mutter lässt ihre Tochter in einem Recyclingzentrum zurück, um einen Job zu suchen. Sie verspricht aber, Maria bald wieder abzuholen.


Hautnah folgt Baumeister mit beweglicher Handkamera Maria. Spätestens ab der Trennung von der Mutter wird ganz aus ihrer Perspektive erzählt und auf ihrem Wissensstand sind die Zuschauer:innen. Mit ihren Erlebnissen und Begegnungen erhält man Einblick in das Leben dieser Menschen am Rand der Gesellschaft. Beiläufig werden so auch Analphabetismus angesprochen, oder später in dem Recyclingzentrum die gesundheitsschädigenden Folgen der Arbeit mit Elektroschrott, aber auch Kinderarbeit. Sichtbar wird mit Demonstrationen und Protesten auf den Straßen und einer Polizeirazzia aber auch, wie die Privatisierung der Müllwirtschaft die sozialen Spannungen vergrößert.


Immer wieder deckt die 40-jährige Regisseurin und Soziologin auch unaufdringlich, aber doch eindrücklich Abhängigkeitsverhältnisse und Ausbeutung auf. Ausgeliefert scheinen hier Frauen und Kinder den Männern, wenn Marias Mutter auf dem nächtlichen Heimweg nur mit Mühe einer Vergewaltigung entkommen, wenn der Kunde für die Welpen sie unter Druck setzt und sexuell nötigt, wenn der Boss im Recyclingzentrum die Kinder zur Arbeit antreibt.


Eingebettet ist diese sozialrealistische Schilderung prekärer Verhältnisse in die berührende Mutter-Tochter-Geschichte. An die Stelle der liebevollen Beziehung tritt dabei mit der Trennung der Beiden die titelgebende Wut Marias und ihre Sehnsucht nach Wiedervereinigung. Auch dabei ist freilich der sozialkritische Akzent nicht zu übersehen, denn es ist ja einzig die Not und der Überlebenskampf, die zur Trennung führen.


Eine große Qualität von "La hija de todas las rabias" ist dabei, dass der Film nicht zu einer deprimierenden Elendsschilderung wird, sondern nicht nur in seinen in kräftige Farben getauchten, starken Bildern Lebensfreude und Hoffnung verbreitet, sondern auch poetischen und spielerischen Momenten Raum lässt. Nicht nur die innige Mutter-Tochter-Beziehung verbreitet hier Wärme, sondern auch eine Freundschaft, die Maria im Recyclingzentrum zu einem Jungen entwickelt, und vor allem Traumsequenzen, die den realistischen Rahmen sprengen.


Immer wieder sieht hier Maria ihre Mutter als Raubkatze, die allein in einem sandigen Krater herumstreift oder sich ihr später in einem Wald nähert. Gespeist sind diese Bilder sowohl von einer Fernsehsendung über den Weltraum, in dem es einmal heißt "Wir sind nur ein Punkt im Universum" als auch von der Ermahnung der Mutter "Wenn du etwas willst, musst du dafür kämpfen".


So erzählt Baumeister auch eine Coming-of-Age-Geschichte, in deren Verlauf sich Maria langsam bewusst werden muss, dass sie letztlich auf sich selbst gestellt ist und sich selbst durchschlagen muss. Wie sie am Ende aber entschlossen und fast mit einem Lächeln im Gesicht auf die Kamera zugeht, macht Hoffnung, dass sie einen Weg in die Zukunft finden wird.


La hija de todas las rabias Nicaragua 2022 Regie: Laura Baumeister mit: Ara Alejandra Medal, Virginia Sevilla Garcia, Carlos Gutiérrez, Noé Hernández, Diana Sedano Länge: 91 min.



Läuft in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.


Trailer zu "La hija de todas las rabias"


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