Ein junger Mann kommt nicht damit zurecht, dass seine Mutter einen Ex-Häftling heiratet: Leichthändig mischt Louis Garrel Familienfilm, Liebesfilm und Gangsterkomödie und kann auf ein lustvoll aufspielendes Ensemble vertrauen.
Wenn Louis Garrel seine vierte Regiearbeit mit einer Theaterszene beginnen lässt, gibt dies schon die Stoßrichtung vor. Denn auch später werden gespielte Szenen eine zentrale Rolle spielen und zum Nachspann wird dieses Spiel mit Schein und Wirklichkeit nochmals mit Gianna Nanninis "I maschi" betont.
Die einleitende Theaterszene spielt in einem Gefängnis. Dort erteilt die 60-jährige Theaterpädagogin Sylvie (Anouk Grinberg) Häftlingen Schauspielunterricht und hat sich dabei in Michel verliebt (Roschdy Zem). Als sie dies ihrem Sohn Abel (Louis Garrel) mitteilt, ist dieser geschockt. Dennoch wird noch im Gefängnis geheiratet.
Wenig später wird Michel entlassen, Abel aber will sich mit der Entscheidung seiner Mutter nicht abfinden und beginnt auf recht unbeholfene Art seinen Stiefvater zu überwachen. Er glaubt nicht an eine Besserung des Mannes, der ihm ohne Zögern eine Rolex schenkt und seiner Mutter einen Blumenladen einrichtet. Woher hat Michel das Geld und was sind das für dubiose Männer, mit denen er sich trifft?
Doch gleichzeitig belastet Abel immer noch die Trauer um seine tödlich verunglückte Frau. Beistand leistet ihm zwar seine beste Freundin Clémence (Noémie Merlant), mit der er zusammen im städtischen Aquarium arbeitet, doch viel zu lange scheinen sie sich schon zu kennen, als dass sich hier eine Beziehung entwickeln könnte.
In der Leichtigkeit, mit der Garrel, der selbst Abel spielt, die Themen und Genres mixt, und im empathischen Blick auf die alles andere als perfekten Charaktere ist dies ein typisch französischer Film. Witz und Ernst fließen bruchlos ineinander, mit sichtlichem Vergnügen spielt das Ensemble und zahlreiche Wendungen sorgen immer wieder für Überraschungen.
Charme verbreitet die Inszenierung aber auch durch die visuelle Gestaltung (Kamera: Julien Poupard) mit ihren in vielfach in Blau getauchten oder blaustichen Bildern oder einem Nebel verhangenen, wie hinter einem dünnen Schleier liegenden Lyon. Auf Alt getrimmt wirken dabei die Bilder durch ihre Körnung, wecken ebenso wie das Plakat die Stimmung der Filme der 1960er und 1970er Jahre.
Lustvoll spielt Garrel aber auch mit der Filmgeschichte, wenn er eine Szene wie in Stummfilmzeiten mit einer Kreisblende beginnen lässt, oder wenn er bei einer Überwachungsszene mit dem in den 1960er Jahren beliebten Split-Screen arbeitet. Hitchcock wiederum erweist er – auch durch die Musik – bei einer Beschattungs- und Verfolgungsszene seine Reverenz, während er sich bei einer fulminanten Heist-Szene, die den Höhepunkt des Films bildet, nach eigener Aussage von Kubricks "The Killing – Die Rechnung ging nicht auf" inspirieren ließ. Nie wirkt dieses Spiel mit filmischen Vorbildern aber aufgesetzt, sondern entwickelt sich flüssig und ganz selbstverständlich aus der Erzählung heraus.
Bestechend ist auch der Aufbau von "L´Innocent", wenn Garrel die Anfangsszene am Ende spiegelbildlich wiederholt und damit von einer Wandlung Abels erzählt. Denn stellt er sich am Beginn ganz hinter die Mutter und will ihre Ehe hintertreiben, so setzt er sich schließlich doch für seinen Stiefvater ein. Offen bleibt hier schließlich die Frage, wer der titelgebende "Unschuldige" ist, oder ob vielleicht nicht jeder im Laufe seines Lebens schuldig wird.
Mit Realismus hat das wenig zu tun, aber großes Vergnügen breitet dieses Spiel mit Kinomustern auf jeden Fall. Der warmherzige Blick auf die Figuren sorgt dabei dafür, dass auch die Emotionen nicht zu kurz kommen und man mit den Figuren mitfiebert und zumindest eine Liebesszene vor einem Aquarium sorgt für einen einprägsamen poetischen Moment.
L´Innocent Frankreich 2022 Regie: Louis Garrel mit: Louis Garrel, Roschdy Zem, Noémie Merlant, Anouk Grinberg, Jean-Claude Pautot, Yanisse Kebbab, Léa Wiazemsky Länge: 99 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.
Trailer zu "L´Innocent"
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