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  • AutorenbildWalter Gasperi

L´amour du monde - Sehnsucht nach der Welt

Aktualisiert: 16. Aug. 2023


Mit ihrem atmosphärisch dichten Langfilmdebüt über eine durch den Sommer am Genfer See driftende 14-Jährige präsentiert sich Jenna Hasse als interessante Vertreterin eines jungen Autor:innenkinos, das von genauer Beobachtung und Einfühlungsvermögen lebt.


2014 drehte die 1989 in Lissabon geborene schweizerisch-portugiesische Regisseurin Jenna Hasse ihren ersten Kurzfilm. Der neunminütige "En août" wurde zu zahlreichen Festivals eingeladen und läuft nun als Vorfilm zu "L´amour du monde". Die Filme verbindet mit Clarisse Moussa nicht nur die gleiche Hauptdarstellerin, deren Figur in beiden Filmen auch Margaux heißt, sondern auch ein Gespür für filmisches Erzählen und eine ausgeprägte Filmsprache.


Geredet wird in beiden Filmen nur sehr wenig. Sie leben vielmehr vom genauen Blick Hasses auf ihre Figuren und deren Lebensräume sowie vom Gespür für die Gefühle von Kindern und Jugendlichen.


Im Mittelpunkt von "En août" steht die sechsjährige Margaux, die von ihrem Zimmer aus zusieht, wie ihr Vater den Kofferraum des Autos belädt. Die Begegnung im Badezimmer pendelt zwischen Scherz und Streit. Spürbar im Zwiespalt ist Margaux gegenüber ihrem Vater, der beschlossen hat, die Familie zu verlassen. Unter ihre Zuneigung mischt sich so auch Wut. Doch noch einmal gibt es einen Moment des Glücks, wenn der Vater sie im Cabrio zu einer Ausfahrt mitnimmt und sie damit für kurze Zeit aus dem Alltag ausbrechen.


Wie die Geschichte klein gehalten ist und wie Hasse ganz nah an den beiden Protagonist:innen dran ist und einfühlsam die Trauer des Mädchens und ihr Unverständnis gegenüber der Entscheidung des Vaters spürbar macht, so wird auch in "L´amour du monde" kein großes Drama entwickelt.


Wieder erzählt Hasse ganz aus der Perspektive der Hauptfigur, die von der inzwischen zum 14-jährigen Teenager herangewachsenen Clarisse Moussa gespielt wird. Mit dem Gang dieser Margaux zu einem Kinderheim am Genfersee setzt der Film ein und mit ihren Augen tauchen so auch die Zuschauer:innen in diese Welt ein.


In ihrer Natürlichkeit wirken die Szenen vom Alltag der Kinder und Betreuer:innen fast dokumentarisch. Margaux soll hier in den Sommerferien ein Praktikum absolvieren, doch sie träumt von der weiten Welt. Spürbar wird dies, wenn sie auf WhatsApp-Nachrichten ihrer Freundinnen, die in Italien den Urlaub verbringen, kurzerhand mit dem Foto eines paradiesischen Strands antwortet, den sie von einer Fernsehsendung abfotografiert.


Die lichtdurchfluteten, warmen Sommerbilder, das in der Sonne glitzernde Wasser des Sees, die Ereignislosigkeit der Tage evozieren eine Atmosphäre der Lethargie und des Stillstands. An der Arbeit im Kinderheim hat Margaux kein besonderes Interesse und auch mit der sechsjährigen Halbwaise Juliette (Esin Demircan), um die sie sich kümmern soll, versteht sie sich zunächst nicht.


Aber langsam entwickelt sie bei den Streifzügen durch die Ufergegend, bei denen sie auch den etwa 30-jährigen Fischer Joël (Marc Oosterhoff) kennenlernen, Empathie. Hier muss nichts dramatisiert werden, sondern ganz beiläufig und sanft wird die Verlorenheit der drei Protagonist:innen sichtbar. Während bei Margaux der Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation ihre Zukunftsträume und eine angedeutete erste Liebe gegenüberstehen, scheint Joël zerrissen zwischen Indonesien, wo er als Taucher arbeitete, und seiner Schweizer Heimat und Juliette bedrückt der Verlust der Mutter und die Vernachlässigung durch den Vater, der zwar verspricht, sie im Kinderheim zu besuchen, sie dann aber immer wieder versetzt.


So setzt sich Margaux auch über Regeln hinweg, um dem Mädchen ein paar glückliche Augenblicke zu ermöglichen. Wie bei der Cabrio-Fahrt in "En août" genießen der Teenager und die Sechsjährige ungetrübte, der Zeit und dem Alltag enthobene Stunden, wenn sie mit Joël im Fischerboot über den See fahren, auf die hinter dem bewaldeten Ufer gelegenen Villen mit ihren Gärten blicken oder auch bei Joëls Kollegen im kleinen Fischerhafen sitzen.


Nichts Spektakuläres passiert, doch eindrücklich vermittelt Hasse gerade im Unaufgeregten und Alltäglichen ihres Films mit ihrem genauen Blick für ihre Charaktere und ihren großartigen und großartig geführten Darsteller:innen, wie sich aus zufälligen Begegnungen langsam Beziehungen und Freundschaften entwickeln.


Großartig ist nicht nur die Einbettung der Figuren in das atmosphärisch dicht eingefangene Sommer-Ambiente, sondern auch Hasses Vertrauen auf die Kraft der Bilder. Nicht nur ihre introvertierte Margaux spricht sehr wenig, sondern auch der Dialog der anderen Figuren ist sehr reduziert. Viel Raum bleibt so für Blicke und Gesten, aber auch der prägnante Musikeinsatz trägt zur Stärke dieses kleinen, großen Coming-of-Age-Films bei.


L ´amour du monde Frankreich / Schweiz / Portugal 2023 Regie: Jenna Hasse mit: Clarisse Moussa, Esin Demircan, Marc Oosterhoff, Mélanie Doutey, Filipe Vargas, Adèle Vandroth, Pierre Mifsud, Adèle Vandroth Länge: 76 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen


Trailer zu "L´amour du monde"


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