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  • AutorenbildWalter Gasperi

Kuessipan


Seit Kindheit an sind zwei in einem Reservat in Quebec lebende indigene Mädchen Freundinnen, doch unterschiedliche Lebensvorstellungen führen zu Differenzen. – Myriam Verreault gelang mit ihrer Verfilmung des gleichnamigen, autobiographischen Romans von Naomi Fontaine nicht nur ein feinfühliges Coming-of-Age Drama, sondern sie erzählt auch viel über die Lebensbedingungen der Indigenen, über Verlust der alten Welt und kulturelle Identität.


"Du bist am Zug" bedeutet "Kuessipan" übersetzt und zeitweise richtet sich diese Aufforderung an Mikuan (Sharon Fontaine-Ishpatao), deren poetische Texte den Film immer wieder aus dem Off begleiten, zeitweise aber auch an Shaniss (Yamie Grégoire). Knapp skizziert Myriam Verreault, die zusammen mit der indigenen Autorin Naomi Fontaine auch das Drehbuch verfasste, die innige Freundschaft der beiden etwa sechsjährigen Mädchen, bietet aber auch zugleich Einblick in die ganz unterschiedlichen Lebensbedingungen. Denn während Mikuan in wohlbehüteten Verhältnissen mit Eltern, Großmutter und Bruder aufwächst, muss Shaniss aufgrund von Alkoholismus und häuslicher Gewalt in ihrem Elternhaus bald zu ihrer Tante ziehen.


Die für Kinder große geographische Distanz von 15 Autominuten kann die Freundschaft aber nicht beeinträchtigen und mit einem Schnitt überspringt Verreault gut zehn Jahre und lässt mit einer Discoszene die Haupthandlung einsetzen. Immer noch sind Mikuan und Shaniss beste Freundinnen, auch wenn ihr Leben inzwischen in ganz verschiedenen Bahnen verläuft. Während Shaniss nämlich schon Mutter ist und mit ihrem immer wieder aggressiven und drogensüchtigen Freund Fred zusammenlebt, wohnt Mikuan noch bei ihren Eltern und besucht nicht nur die Schule, sondern nimmt auch zusätzlich an einem Schreibkurs teil. Risse bekommt allerdings die Freundschaft, als Mikuan eine Beziehung mit dem weißen Francis beginnt, denn Shaniss sieht darin einen Verrat an ihrer Herkunft.


Zunächst einmal ist "Kuessipan" ein klassisches Coming-of-Age Drama, das von den ungemein natürlich agierenden Laiendarstellerinnen Sharon Fontaine-Ishpatao und Yamie Grégoire getragen wird. Weit darüber hinaus geht Myriam Verreaults erster Kinospielfilm aber durch die Verankerung im Milieu der indigenen Bevölkerung.


Eindrücklich feiert die 42-jährige Frankokanadierin einerseits immer wieder in Landschaftstotalen die Weite des Landes, erinnert aber auch daran, dass dieses Land einst der indigenen Bevölkerung gehörte, die nun auf Reservate beschränkt ist. Beiläufig wird auch an deren Verdrängung durch Minengesellschaften und die Zerstörung des Landes sowie den Verlust von Traditionen erinnert.


Hand in Hand damit gehen auch prekäre Lebensbedingungen, die oft zu häuslicher Gewalt und Alkoholismus führen. Auch Kritik an der Männergesellschaft fehlt hier nicht, wenn Mikuans Eltern zwar selbstverständlich in die Eishockey-Karriere des Sohnes investieren wollen, aber wenig Verständnis für ihren Wunsch zu studieren zeigen.


Gleichzeitig wird mit den unterschiedlichen Lebensvorstellungen von Mikuan und Shaniss auch die Frage nach dem Umgang mit der indigenen Herkunft und Identität aufgeworfen. Während es nämlich für Shaniss nur den Platz im Reservat gibt, glaubt Mikuan ihre Wurzeln auch in der Welt der Weißen bewahren und zudem mit ihrer Literatur die Weißen mit dem Denken und der Situation der Indigenen vertraut machen zu können. So ist für sie auch eine diese ethnischen Grenzen überschreitende Beziehung kein Problem, während sich bald zeigt, dass sich Francis in dieser ihm fremden Umwelt zunehmend unwohl fühlt.


Ganz auf Augenhöhe mit ihren jugendlichen Protagonistinnen ist Vereault, bleibt nah an ihnen dran und beweist viel Einfühlungsvermögen in deren Gefühlswelt, forciert aber die Emotionen nicht, sondern erzählt zurückhaltend. Auch wenn dabei Mikuan im Zentrum steht und allein schon durch ihr Voice-over ihre Perspektive dominiert, so kommt doch auch Shaniss nicht zu kurz. Auch aus dieser Ausgewogenheit in der Schilderung der beiden Lebenswege entwickelt sich eine emotionale Kraft, die "Kuessipan" nachwirken lässt.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen, am 22.8. beim Filmfest Schaan und am 13.9. im Kinotheater Madlen in Heerbrugg


Trailer zu "Kuessipan"


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