Kill the Jockey – El Jockey
- Walter Gasperi
- vor 1 Tag
- 3 Min. Lesezeit

In Luis Ortegas von absurdem Humor durchzogenem Spielfilm versucht ein einst erfolgreicher Jockey aus seiner Rolle auszubrechen und eine neue Identität zu finden: Ein visuell brillanter, vor Einfallsreichtum sprühender und inhaltlich reicher, aber auch sehr eigenwilliger Film über Identität, Geschlechterrollen, Abhängigkeiten und die Sehnsucht nach Freiheit.
Die erste Szene scheint den Ton von Luis Ortegas "Kill the Jockey" vorzugeben: Wie ein blinder, ein geknebelter und ein beinloser Mann in einer Kneipe sitzen und die Kamera bald den Jockey Remo Manfredini (Nahuel Pérez Biscayart) in voller Reitmontur an der Jukebox erfasst, lässt eine absurde Komödie erwarten.
Die farbsatten Bilder und die lakonische Abfolge von Großaufnahmen der ausdruckslosen Figuren weckt auch aufgrund von Aki Kaurismäkis Stammkameramann Timo Salminen Erinnerungen an die Tragikomödien des Finnen, doch so einfach lässt sich der Film des 45-jährigen Argentiniers nicht einordnen.
Eine Gangsterfilm-Handlung setzt ein, wenn ein Mafioso und seine Handlanger den einst gefeierten Remo in der Bar unter Druck setzen, da sein Stern aufgrund von Drogenexzessen am Verglühen ist und er bei den Gangstern Schulden hat. Ungleich erfolgreicher ist Remos schwangere Freundin Abril (Úrsula Coberó), die gegenüber den Mafiosi ihre Selbstständigkeit behauptet.
Um Remo wieder zurück in die Spur zu bringen, wird er mit Abril in eine Scheune gesperrt, doch beim nächsten Rennen fällt er nach einem selbst gemischten Cocktail aus Whisky, Zigarettenrauch und Dopingmittel für Pferde schon in der Startbox vom Pferd. Mit einem aus Japan importierten Pferd scheint sich aber dann doch wieder der Erfolg einzustellen, doch in Führung liegend, bricht Remo von der Bahn aus. Er rast auf die Absperrung zu und erwacht -nach einer Schwarzblende - mit turbanartigem Kopfverband im Krankenhaus als Frau namens Dolores. Von der Last der alten Identität scheint diese befreit, wenn die Waage kein Gewicht mehr anzeigt, doch bald melden sich wieder die Gangster ….
An Buster Keaton erinnert Hauptdarsteller Nahuel Pérez Biscayart in seinem ausdruckslosen und ausgesprochen wortkargen Spiel. Wie er gefangen ist in seiner Welt macht vor allem der Gang durch den endlos langen und sehr schmalen Tunnel zur Rennbahn spürbar. Noch mehr als auf der Rennbahn muss er sich hier wie auf Schienen vorwärtsbewegen, während die Kamera vor ihm zurückweicht. Kein Abweichen vom Weg ist hier möglich.
So befreit sich Remo zwar mit dem Ausbruch aus der Pferdebahn vom Erfolgsdruck und den Mafiosi, doch auch in der neuen Identität sieht er – oder vielmehr sie - sich bald äußeren Zwängen ausgesetzt. Auf sich gestellt streift diese Dolores oder Lola, nachdem sie einer anderen Patientin Pelzmantel und Handtasche gestohlen hat, durch Buenos Aires, sieht sich aber bald wieder mit den Mafiosi konfrontiert.
Und auch ein dritter und letzter Abschnitt wird trotz weiterer Transformation keine langfristige Freiheit bringen, sondern vielmehr deutet das Ende an, dass es kein Entkommen aus den gesellschaftlichen Zwängen und Abhängigkeiten gibt und nach befreitem Beginn die Welt immer wieder zum Gefängnis wird.
Genrekino und Existentialismus verbindet Ortega so mit dem Gangsterplot und dem Streben nach Freiheit, doch dies sind nur zwei Ebenen des Films. Zudem baut der er nämlich auch zwei fulminante Musicalzenen ein. Während in der einen Remo mit Abril entfesselt tanzt und sich der Traum von Freiheit zu erfüllen scheint, wird in der zweiten das Aufwärmen in der Umkleidekabine der Rennbahn zur großen Tanzszene. Weil sich bei letzterer aber auch Abril und eine zweite weibliche Jockey näher kommen und sich eine neue Beziehung entwickelt, wird "Kill the Jockey" auch zu einem Film über Geschlechterrollen und das Aufbrechen klassischer Familienkonzepte.
An Jacques Audiards "Emilia Pérez" ebenso wie an Pablo Larrains "Ema" erinnert "Kill the Jockey" in diesen Themen, doch Ortega macht es um einiges vertrackter, indem er seinen Film immer wieder mit absurden Einsprengseln versetzt. Da gibt es nämlich nicht nur den Jockey, der seine Reitmontur und eine dunkle Sonnenbrille im ersten Abschnitt fast nie ablegt, sondern unter anderem auch ein scheinbar nie alterndes Baby, das der Mafioso auf seinem Schoss hält, sowie dessen stoische Helfer und im zweiten Teil vier Kinder, die in Remo / Dolores ihre Mutter sehen.
In keine Schublade lässt sich dieser Film pressen, begeistert aber gerade mit seiner Eigenwilligkeit und seinem Einfallsreichtum. Denn einerseits machen großartige Bilder und mitreißende melancholische Musik diesen lakonisch inszenierten Mix aus Gangsterfilm, Sportlerdrama und Musical zu einem visuell-akustisch intensiven Erlebnis, andererseits wird auch inhaltlich mit zahlreichen Details ein Reichtum geboten, der vielfältige Interpretationen zulässt und auch ein mehrmaliges Sehen lohnt.
Kill the Jockey - El Jockey
Argentinien / Spanien / USA / Mexiko / Dänemark / Großbritannien 2024
Regie: Luis Ortega
mit: Nahuel Pérez Biscayart, Úrsula Corberó, Daniel Giménez Cacho, Daniel Fanego, Osmar Núñez
Länge: 96 min.
Läuft derzeit in den deutschen und schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.
Trailer zu "Kill the Jockey - El Jockey"
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