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  • AutorenbildWalter Gasperi

Io Capitano

Zwei Teenager machen sich auf den Weg von Senegal nach Italien: Matteo Garrones Migrationsdrama hat starke Momente, wirft aber auch viele Fragen auf, die für einen sehr zwiespältigen Gesamteindruck sorgen.


Grundlegendes Problem von "Io Capitano" ist die Perspektive des Films. Denn da erzählt ein Europäer ungebrochen aus afrikanischer Perspektive eine Migrationsgeschichte. Doch nie wird spürbar, dass Matteo Garrone mit dem afrikanischen Denken seiner Protagonisten vertraut ist. Sein Ziel "anstatt wie üblich von Europa nach Afrika zu blicken, schauen wir von Afrika nach Europa" ist von vornherein zum Scheitern verurteilt – oder als Akt kultureller Aneignung zu bezeichnen –, denn Garrone ist nun mal kein Afrikaner und kann nicht so leicht die Perspektive wechseln.


Perfekt gecastet sind zwar die Laiendarsteller:innen und stark spielen der bei den Filmfestspielen von Venedig als bester Schauspieler ausgezeichnete Seydou Sarr und Moustapha Fall. Authentisch wirken sie als Cousins, die der Traum von einer Karriere als Rapper in Europa zur heimlichen Flucht verleitet, doch folkloristisch wirkt Garrones Schilderung der senegalesischen Hauptstadt Dakar.


Armut und Not werden hier nicht spürbar, sondern vielmehr zeichnet der Italiener in kräftigen Farben und perfekt ausgeleuchteten Einstellungen ein Bild des prallen Lebens. Negiert werden damit auch existentielle Fluchtgründe, denn das Leben in Dakar erscheint ja als durchaus angenehm.


Dennoch möchten die beiden Teenager weg und auch die Warnungen eines aus Europa zurückgekehrten älteren Mannes können sie nicht umstimmen. So brechen sie heimlich auf, nachdem sie auf dem Friedhof, wie vom Schamanen befohlen, die Zustimmung der Ahn:innen eingeholt haben.


Weder hier noch davor bei einem Fest gewährt Garrone freilich Einblick in die senegalesische Kultur, sondern beschränkt sich auf die oberflächliche Schilderung, die auch den folgenden Film bestimmt. Mit Ortsinserts wird die Reise von Dakar über Niger durch die Sahara bis Libyen strukturiert, doch "Io Capitano" beschränkt sich dabei auf die Abfolge bildstarker Szenen, die durch den Hochglanz-Look das Flüchtlingselend schönfärben und weichspülen.


Da mögen die beiden Teenager auch von Schleppern ebenso wie von Polizisten immer wieder abgezockt und schließlich auch gefoltert und quasi als Sklaven verkauft werden, so geht dieses Drama doch nie in die Tiefe. Verheerend ist  auch der Musikeinsatz, durch den das im Grunde erschütternde Drama ebenso wie durch Luftaufnahmen der durch die Wüste rasenden Pick-ups, die Erinnerungen an "Mad Max" wecken, zu einem Abenteuerfilm aufgeputscht wird.


Für ein breites Publikum konsumierbar wird hier eine Migrationsgeschichte gemacht, die aufgrund der Härte nicht konsumierbar sein darf. Es reicht nicht aus die beiden Teenager immer wieder mit skrupellosen, nur an den eigenen Profit denkenden Schleppern zu konfrontieren, sondern Härte müsste der Film auch durch eine harsche Form entwickeln. Wie das geht, zeigte zuletzt Agnieszka Holland in ihrem aufwühlenden "Green Border".


Durchaus intensive Szenen gelingen Garrone zwar, wenn der Pickup einfach weiterfährt, als ein Migrant vom Ladedeck fällt, wenn sich Seydou um eine Frau kümmern will, die während des Zugs durch die Wüste zusammenbricht, oder wenn in einem Gefängnis in Libyen die Migranten gefoltert werden, um an ihr Geld zu kommen, doch gleichzeitig stellt sich hier teilweise der unangenehme Eindruck der Ausbeutung bitteren Flüchtlingselends für eine wirkungsvolle Szene ein.


Deplatziert wirken angesichts des realen Flüchtlingselends auch zwei poetische Traum-Szenen, in denen Seydou einmal die in der Wüste umgekommene Frau hinter sich herfliegen sieht und einmal seine Mutter besucht. In Garrones "Das Märchen der Märchen" oder "Pinocchio" mögen solche Szenen passen, doch zu bitter ist die Realität, als dass sie in diesem Film akzeptabel wären.


Problematisch ist aber auch das Finale, auf das sich der Filmtitel bezieht und das hier nicht verraten werden soll. Da mögen dann zwar der Profitsucht und dem Egoismus der Schlepper und Banditen das Verantwortungsbewusstsein und die Menschlichkeit Seydous gegenübergestellt werden, doch "Io Capitano" wird spätestens hier auch zur Entwicklungs- und Heldengeschichte Seydous, der vom zunächst zögerlichen Teenager zu einem entschlossen handelnden Mann wird, und endet bei aller Offenheit optimistisch, während doch allein 2023 über 2500 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer ums Leben kamen.


Io Capitano Italien / Belgien / Frankreich 2023 Regie: Matteo Garrone mit: Seydou Sarr, Moustapha Fall, Issaka Sawadogo, Hichem Yacoubi, Doodou Sagna, Ndeye Khadi Sy, Venus Gueye  Länge: 121 min.



Läuft jetzt in den österreichischen und deutschen Kinos

Trailer zu "Io Capitano"




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