Die Liebe zu Carlo Collodis klassischem Kinderbuch ist in Matteo Garrones Realfilm in jeder Einstellung spürbar, doch eigene Akzente lässt der prächtig ausgestattete, aber ziemlich behäbig erzählte Film vermissen.
An die 30 Mal wurde Carlo Collodis zunächst ab 1881 in einer italienischen Wochenzeitung als Fortsetzungsgeschichte erschienene und dann zum Buch ausgebaute klassische Geschichte um die titelgebende Holzfigur seit 1911 verfilmt. Der Bogen spannt sich vom Disney-Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1940 über ein US-Musical (1968) und eine japanische Animé-Serie (1976/77) bis zu einer Erotik-Slapstickadaption (1971) und einer Horrorfilm-Variante (1996).
Nicht nur in Italien und den USA, sondern auch in Südkorea, Japan, England, der ehemaligen DDR und der Sowjetunion adaptierten Filmemacher Collodis Geschichte. Auch Roberto Benigni, der nun den Tischler Geppetto spielt, legte 2002 einen - allerdings ziemlich erfolglosen - "Pinocchio"-Realfilm vor und für 2021 wird nicht nur eine düsterere Stop-Motion-Animation von Guillermo del Toro angekündigt, sondern parallel arbeiten auch Robert Zemeckis für Disney mit Tom Hanks und Ron Howard mit Robert Downey jr. an Realfilm-Adaptionen.
Matteo Garrone ist zwar eher für harte Filme wie den Mafiafilm "Gomorrha" und "Dogman" bekannt, bewies aber schon 2015 mit dem visuell überbordenden „Das Märchen der Märchen“ sein Gespür für die bildmächtige und einfallsreiche Verfilmung von Märchen. In jeder Einstellung spürt man nun in seinem "Pinocchio" seine Liebe zur Vorlage.
In prächtigen, in goldgelbes Licht getauchten Bildern (Kamera: Nicolai Brüel) beschwört er die pittoreske Landschaft der Toscana und erweckt mit großer Liebe zu den Figuren und zum Detail das Dorf, in dem der von Benigni mit Herzblut und viel Einfühlungsvermögen gespielte Geppetto wohnt, zum Leben. Genau hält sich Garrone an die Vorlage verzichtet auf Modernisierungen oder Brechungen, erzählt mit viel Gefühl diese ungewöhnliche Geschichte über einen einsamen Tischler, dessen Holzfigur (Federico Ielapi) lebendig wird, aber sich nicht an gesellschaftliche Regeln halten will, die Schule schwänzt, langsam aber doch durch verschiedene gefährliche Abenteuer reift.
Großartig gelungen sind auch die von Mark Coulier geschaffenen Masken der von Schauspielern gespielten Holzfigur, des betrügerischen Duos Fuchs und Katze, der Schnecke, die Pinocchio aufnimmt, oder des Richters in Affengestalt. Ergänzt wird dies durch perfekte Animation bei der Verwandlung Pinocchios in einen Esel, beim Wachsen der Nase, als er lügt, oder eines riesigen Wals.
Nichts gibt es hier zu meckern, gleichzeitig erstarrt Garrone aber geradezu in Ehrfurcht vor der Vorlage. Aus der Zeit gefallen wirkt sein Film in seiner nicht nur langsamen, sondern auch uninspirierten Erzählweise und in der Eins-zu-eins-Umsetzung und Bebilderung von Collodis Buch. Nichts findet man hier von der mitreißenden Fabulierfreude und den spektakulären Bildeinfällen, die „Das Märchen der Märchen“ kennzeichneten, sondern sanft fließen Realismus im Toscana-Ambiente und Märchenfiguren, die ganz selbstverständlich wie reale Personen behandelt werden, ineinander.
Die Geschichte steht ganz im Zentrum, Garrone tritt hinter sie zurück. Deutlich wird dadurch auch, wie die Botschaft des Buches quer zu Erziehungsregeln und Erziehungsbildern steht, die heute nicht nur gesellschaftlich, sondern auch in Filmen propagiert werden. Denn da wird nicht die Selbstständigkeit der Holzfigur gefeiert, sondern vielmehr wird dazu angehalten dem Vater zu gehorchen, brav die Schule zu besuchen und zu lernen, während Lügen ebenso mit der langen Nase, wie das Schwänzen der Schule mit Entführung durch ein Marionettentheater und die Lust auf ein grenzenloses Spieleland statt Schulbesuch mit Verwandlung in einen Esel bestraft werden. Gleichzeitig steht der Bestrafung für Fehlverhalten freilich auch Belohnung für gute Taten gegenüber.
Nicht nur diese zwar der Vorlage entsprechende, aber überholte schwarze Pädagogik wirkt unzeitgemäß, sondern eben auch der Film in seiner Originaltreue. So sehr man die runde und geschlossene Inszenierung bewundern mag, so sehr Roberto Benigni als armer, aber liebender und sich über diesen Holzsohn freuender Vater Geppetto ebenso wie alle anderen Figuren dank des empathischen Blicks Garrones überzeugen, und so sehr man dieses sanfte Plädoyer für Menschlichkeit schätzen mag, so sehr fragt man sich doch, wer diesen Film sehen will: Zu behäbig dürfte für Kinder bei allen unbestrittenen Schönheiten das Erzähltempo sein, zu geradlinig und einfach für Erwachsene die Erzählweise, die zwar viel Augenschmaus bietet, aber jede Originalität und eine zweite Ebene schmerzlich vermissen lässt.
Läuft ab Donnerstag, 9. 7. in den Schweizer Kinos
Trailer zu "Pinocchio"
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