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AutorenbildWalter Gasperi

Il buco


Dialoglos zeichnet Michelangelo Frammartino eine Höhlenexpedition in Süditalien in den frühen 1960er Jahren nach und stellt sie dem Hirtenleben an der Erdoberfläche gegenüber: Eine meditative, visuell und akustisch berauschende Reise in eine fremde Welt, die offen ist für viele Interpretationen.


Schon seinen ersten Langfilm "Il dono" (2003) drehte der 1968 in Mailand geborene Michelangelo Frammartino im kalabrischen Heimatdorf seiner Eltern. Auch sein zweiter Langfilm "Le quattre volte" (2010), in dem Frammartino dialoglos das ländliche Leben einfing, entstand in dieser Region. Und auch mit seinem dritten Film "Il buco", der 2021 bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, bleibt er dieser archaischen Gegend treu.


So große zeitliche Abstände zwischen seinen Filmen liegen, so langsam sind diese auch im Erzählrhythmus. Jede Einstellung des Schweizer Kameramanns Renato Berta und jeder Ton ist hier genau geplant und lädt ein, in die Welt dieses auf der einen Seite so klaren und andererseits in der Offenheit für Interpretationen so rätselhaften Films einzutauchen.


Die Grenzen von Dokumentar- und Spielfilm verschwimmen in den Filmen des Italieners dabei, wenn er eine Höhlenexpedition des Jahres 1961 nachzeichnet. Eine Gruppe junger Höhlenforscher drang damals im 2200 Meter hohen Gebirgszug des Monte Pollino, der an der Grenze zwischen Kalabrien und der Basilikata liegt, in den Abisso del Bifurto vor.


So genau Frammartino aber auch die Erforschung der Höhle und deren schriftliche Dokumentation nachzeichnet, so wenig ist er an Vermittlung von Fakten interessiert. Nicht um Höhlenkunde geht es hier, sondern philosophisch ist der Ansatz, wenn am Beginn ein Fernsehbericht über den Bau des Pirelli-Hochhauses in Mailand, eines der höchsten Wolkenkratzers Italiens, dieser Expedition gegenübergestellt wird. Dem vertikalen Streben in die Höhe steht so das Erkunden der Tiefe gegenüber, während es gleichzeitig noch in der Horizontale das archaische Hirtenleben in dieser Region gibt.


Wie die Zuschauer*innen im Dunkeln des Kinos sitzen, beginnt auch "Il buco" ("Das Loch") in völliger Dunkelheit mit dem Tropfgeräusch von Wasser. Erst langsam hellt sich das Bild auf und öffnet sich der Blick von unten durch das titelgebende Loch zum Ausgang, vor dem Kühe weiden. Unscheinbar wirkt die Höhle von oben, erscheint auf der Wiese als Loch zwischen einigen Felsblöcken – und doch wird es hier schließlich 683 Meter in die Tiefe gehen.


Wie Frammartino mit dem Bau des Pirelli-Hochhauses und der Höhle im archaischen Kalabrien den Gegensatz von reichem Norden und rückständigem Süden ins Spiel bringt, ohne diesen breit auszuformulieren und zu thematisieren, so spielt er durchgängig mit Gegensätzen. Diese werden aber nicht dramatisch aufgebauscht, sondern einfach nebeneinander gestellt. – Frammartino zeigt nur, die Interpretation seiner Bilder und der Montage dieser ruhigen, meist statischen Einstellungen überlässt er den Zuschauer*innen.


So kann man auch den Gegensatz von wissenschaftlicher Forschung und archaischem Hirtenleben herauslesen. Die junge Gruppe, die aus Norditalien mit dem Zug anreist, steht dem einzelnen, alten Hirten gegenüber, die klaustrophobische Enge in der dunklen Höhle, in der die Lampen oft nur einen kleinen Bildausschnitt erhellen, der Weite und Helligkeit der Totalen der Berglandschaft.


Großartig sind die Bilder der unberührten Natur und der unterschiedlichen Wetterstimmungen ebenso wie die Höhlenbilder, bei denen die Lampen die nassen Felswände zum Glitzern bringen und in den Abgrund führende Strickleitern Schwindelgefühle erzeugen können.


Getrennt scheinen diese Welten und doch stellt sich eine Verbindung her, wenn bei einem Fußballspiel der Ball zunächst auf der Wiese hin- und hergeschossen wird, bis er ins Loch fällt und damit in die Tiefe stürzt, die horizontale Bewegung also durch eine vertikale abgelöst wird.


Auf der Tonebene wiederum stehen den Tropfgeräuschen von Wasser in der Höhle auf der Wiese Geräusche der Tiere und der Natur sowie die Rufe des Hirten gegenüber. Fern scheint aber jede moderne Welt, einzig die Titelseiten einer Illustrierten, auf denen Berühmtheiten wie John F. Kennedy und Sophia Loren zu sehen sind, lassen das Gezeigte zeitlich auf die frühen 1960er Jahre datieren. Wenn diese Seiten zur Erhellung der Höhle angezündet werden, kann man darin auch einen Kommentar zur Vergänglichkeit von Ruhm und zur Kürze des Lebens angesichts der Beständigkeit der Höhle lesen. Aufgedrängt wird einem eine solche Deutung aber nie.


Gleichzeitig steht dem einfachen Leben des Hirten und seiner Beziehung zu seinen Tieren die wissenschaftliche Forschung mit der exakten Dokumentation der Höhle gegenüber. Wie die Forscher dabei schließlich zu einem Endpunkt kommen, kommt aber auch das Leben des alten Hirten zu einem Ende.


So sehr "Il buco" mit seinem meditativen Rhythmus, seiner bestechenden Bild- und Tonspur und durch das Spiel mit seinen zahlreichen Gegensätzen anregt, in diese fremde Welt einzutauchen, so sehr regt dieser berückend schöne Film durch seinen radikalen Verzicht auf jeden Kommentar gleichzeitig an, über das Leben und das Menschsein zu meditieren. - Einlassen muss man sich dafür freilich auf eine ebenso leise wie ruhige und langsame Reise, die mit dem herkömmlichen Kino nichts gemein hat.



Il buco Italien / Deutschland / Frankreich 2021 Regie: Michelangelo Frammartino mit: Paolo Cossi, Jacopo Elia, Denise Trombin, Nicola Lanza, Antonio Lanza, Leonardo Larocca, Claudia Candusso, Mila Costi Länge: 93 min.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen


Trailer zu "Il buco"


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