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  • AutorenbildWalter Gasperi

Hytti nro 6. - Compartment No. 6 - Abteil Nr. 6

Aktualisiert: 25. März 2022


Auf einer mehrtägigen Zugreise von Moskau nach Murmansk muss sich eine finnische Archäologiestudentin das Abteil mit einem scheinbar ungehobelten und schroffen jungen russischen Minenarbeiter teilen. – Juho Kuosmanen gelang ein in seiner Einfachheit und Zärtlichkeit beglückender Zugfilm, der vor winterlich kalter und trister Kulisse ganz auf die Dynamik menschlicher Beziehungen fokussiert.


Zugreisen haben es an sich, dass man ganz unterschiedliche Leute treffen kann. Ist der Zug dann noch überfüllt, kann man dem Gegenüber kaum entkommen. Man kennt das Setting nicht nur aus Krimis wie "Mord im Orient Express" und Alfred Hitchcocks "Eine Dame verschwindet", sondern auch aus Richard Linklaters Liebesfilm "Before Sunrise". Kommen sich bei Linklater die beiden Protagonist*innen aber rasch näher, ist bei Juho Kuosmanen der Weg dorthin lang.


Eine Abschiedsfeier für die Finnin Laura (Seidi Haarla) von ihrer Geliebten Irina in Moskau und die Ausflüge im Zielort Murmansk bilden den Rahmen, im Zentrum steht aber die Zugfahrt. Mit dem Satz "Es kommt nicht darauf an, wohin man fährt, sondern woher man kommt" und mit den 10.000 Jahre alten Petroglyphen in Murmansk, die der Grund Lauras für die Reise sind, verweist Kuosmanen zwar schon am Beginn auf die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart, doch "Compartment No. 6" fokussiert dann ganz auf der Gegenwart.


Wie der Finne in seinem preisgekrönten zweiten Spielfilm "Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki" die Spielregeln des Boxerfilm mit einem Boxer, der immer wieder verliert, auf den Kopf stellte, so erzählt er hier eine Beziehungsgeschichte, ohne je in die Routinen dieses Genres zu verfallen.


Auf eine dramatische Handlung verzichtet Kuosmanen und konzentriert sich ganz auf die mehrtägige Zugfahrt. Auf dieser muss sich Laura ihr Abteil Nummer 6 mit dem jungen russischen Minenarbeiter Ljocha (Yuriy Borisov) teilen. Sie findet ihn nicht nur angetrunken in ihrem Abteil vor, sondern auch seine schroffen und teils übergriffigen Fragen nerven sie rasch. So schnell wie möglich möchte sie flüchten und das Abteil wechseln, doch da der Zug überfüllt ist, muss sie bleiben.


So versucht sie eben den Kontakt auf ein Minimum zu reduzieren, doch über mehrere Tage hinweg ist das schwierig. Andere Reisende kommen in dieses Abteil und steigen wieder aus, einzig Laura und Ljocha bleiben und, als auch Ljocha eine freundlichere und hilfsbereite Seite zu zeigen beginnt, öffnet sich langsam auch Laura.


Wunderbar zärtlich und genau ist "Compartment No. 6" im Blick auf diese verlorenen Seelen. Während man bei Laura ihren Schmerz über die Trennung von Irina spürt, erfährt man über Ljocha einzig, dass er in Murmansk in einer Mine arbeitet, aber nichts über seine Vergangenheit. Ganz im Hier und Jetzt spielt dieser Film und schildert berührend, wie zwei Menschen, die nichts miteinander zu tun haben, sich langsam näher kommen, sich so etwas wie Freundschaft oder sogar Liebe entwickelt.


Weniger die nationale Herkunft und die Sprache trennt zunächst die beiden Protagonistinnen als vielmehr die soziale Stellung. Seidi Haarla verkörpert ebenso überzeugend die Archäologie-Studentin Laura wie Yuriy Borisov den ungebildeten und unkultivierten, rüpelhaften Ljocha.


Hautnah ist die Kamera in dem analog auf 35mm gedrehten Film vor allem an Laura. Ebenso Nähe wie Enge wird im Abteil spürbar und beeindruckend ist, was Kameramann Jani-Petteri Passi hier auf engstem Raum geleistet hat. In genau getimten Rhythmus wechseln diese Bilder immer wieder mit Blicken aus dem Zug oder Stopps in Städten.


Die äußere Bewegung korrespondiert so mit der inneren Bewegung von Laura und Ljocha. Während freilich verwaschene Grau-, Grün- und Brauntöne ebenso wie die winterlich verschneite Landschaft und die Tristesse der Städte durchgängig eine bedrückende Stimmung evozieren, kommt innerlich langsam Wärme auf.


Eine ganz eigene Stimmung entwickelt "Compartment No. 6" auch dadurch, dass er nicht in der Gegenwart, sondern vor dem digitalen Zeitalter in den postsowjetischen späten 1990er Jahren spielt. Handys sind hier noch fern und zum Telefonieren muss man eine Telefonzelle suchen, Musik wird vom Kassettenrecorder abgespielt, Camerons 1997 entstandenen Hit "Titanic" kennen die Protagonistinnen schon, auch wenn der alte Zug und die desolaten Städte eher an die 1960er Jahre denken lassen.


Die Tristesse der Welt bis hin zur Kälte von Murmansk ist der Background dieses Zugfilms. Allein menschliche Wärme kann hier etwas Licht und Glück hineinbringen und so bewegt sich "Compartment No. 6" wie schon "Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki" auf ein Ende zu, bei dem erstmals warmes Licht auf Lauras Gesicht fällt und sie befreit lacht. Dennoch vermeidet der Finne bei diesem minimalistischen und wunderbar lakonischen Film, der mit seinen ungleichen Protagonist*innen und seiner äußeren Kälte auch an Jim Jarmuschs "Stranger than Paradise" erinnert, jeden Anflug eines klassischen Happy-Ends..



Compartment No. 6 – Hytti nro 6 Finnland / Russland /Estland / Deutschland 2021 Regie: Juho Kuosmanen mit: Seidi Haarla, Yuriy Borisov, Dinara Drukarova, Julia Aug, Lidia Kostina, Tomi Alatalo, Viktor Chuprov, Denis Pyanov Länge: 107 min.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan


Trailer zu "Compartment No.6 - Hytty nro 6"


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