Ron Howard adaptierte für Netflix J. D. Vances 2016 erschienenen Memoiren über seine dysfunktionale, dem White Trash zuzuordnende Familie. Glenn Close brilliert als Großmutter, aber Howard fokussiert zu sehr auf den Charakteren, statt die Geschichte aus dem Milieu heraus zu entwickeln.
Nur die in helle Sommerbilder getauchte Eröffnungsszene spielt im ländlichen Jackson, Kentucky, wo die Vorfahren von J. D. Vance lebten. Als sein eigentliches Zuhause bezeichnet er diese - entsprechend dem Titel hinterwäldlerische - Region in den Appalachen, obwohl seine Großmutter schon als 13-jährige Schwangere mit dem Großvater die Gegend verließ und sich in dem im Rust Belt gelegenen Middletown, Ohio niederließ.
Von dieser 1997 spielenden ersten Szene springt Howard ins Jahr 2011. Aus dem jungen J.D. (Owen Asztalos) ist ein Mann (Gabriel Basso) geworden, der in Yale Jura studiert und auf eine Praktikumsstelle hofft, um das weitere Studium finanzieren zu können. Als Fremdkörper in dieser gehobenen Gesellschaft zeichnet der Oscar-Preisträger ("A Beautiful Mind") seinen Protagonisten, wenn dieser bei einem Festessen nicht weiß, wie das Besteck zu verwenden ist oder er seine Freundin (Freida Pinto) mit seiner Aussprache von "Sirup" zum Lachen bringt.
Ein Anruf von seiner Schwester Lindsay (Haley Bennett), dass ihre Mutter Bev (Amy Adams) nach einer Überdosis Heroin ins Krankenhaus eingeliefert worden sei, führt ihn zurück nach Middletown, um für sie einen Therapieplatz zu suchen, gleichzeitig setzt ihn ein für den nächsten Tag angesetztes Vorstellungsgespräch in Yale unter Zeitdruck.
Nur zwei Tage umspannt diese Gegenwartshandlung, die Einblick in das amerikanische Sozial- und Bildungssystem gibt, in denen ohne Geld (fast) nichts läuft. Rückgrat und Anker ist diese Ebene für J. D.s immer wieder hereinbrechenden Erinnerungen an seine Kindheit mit der schwierigen Beziehung zur schon damals tablettensüchtigen, psychisch instabilen und auch aggressiven Mutter, und der resoluten Großmutter (Glenn Close), die ihn schließlich diesem Einfluss entzog.
Mit allen Stereotypen versehenen White Trash und vermutlich überzeugte Anhänger von Donald Trump präsentiert Howard hier, doch der sozialrealistische Blick auf das Milieu wie er Filme von Debra Granik oder Kelly Reichardt auszeichnet, fehlt leider völlig. Viel zu sehr auf die Figuren fokussiert er, um eine dichte Atmosphäre aufkommen lassen. Ganz im Individuellen bleibt der Film, öffnet nie den Blick über die Familie auf diese gesellschaftliche Schicht und den Niedergang der Stahlindustrie als Ursache für die Verarmung.
Auch die von Amy Adams gespielte Mutter ist mehr ein Klischee als ein differenziert gezeichneter Charakter, dessen Schicksal bewegen könnte. Zu begeistern versteht einzig Glenn Close als raue und stets rauchende Großmutter, die alles unternimmt um J. D. mittels Bildung einen Weg aus diesem Sumpf zu ermöglichen.
So erzählt "Hillbilly Elegy" einerseits von familiären Bindungen, andererseits aber auch eine klassische amerikanische Erfolgsgeschichte von jemandem, der das Milieu, aus dem er stammt zwar nicht leugnet oder vergisst, aber hinter sich lässt, und erkennt, dass er selbst jeden Tag über seinen eigenen Lebensweg entscheiden kann.
Wie gewohnt ist die Regie von Howard ("Da Vince Code", "Illuminati", "Rush") leider ausgesprochen uninspiriert. Vom Blatt herunter inszeniert er die Memoiren von Vance, beschränkt sich auf eine Bebilderung der Vorlage, lässt aber jede Leidenschaft für den Stoff vermissen. Auch die Verschränkung der Zeitebenen ist weder elegant noch aufregend, sondern wirkt mechanisch und ziemlich plump.
So ist "Hillbilly Elegy" ein Film der vergebenen Chancen, denn der Rust Belt und diese Menschen am Rand der Gesellschaft, die sonst im US-Mainstream-Kino kaum vorkommen, bieten zweifellos Potential für ein dichtes und großes Drama, doch hier bleibt nicht viel mehr als die Botschaft, dass im Land der unbegrenzten Möglichkeiten auch Menschen aus der Unterschicht Aufstiegschancen haben.
Im Grunde arbeiten Howard / Vance damit mit den gleichen Mustern wie Boxerfilme von Robert Wises "Somebody Up There Likes Me" (1956) bis zum Klassiker "Rocky" (1976). Während dort davon erzählt wird, dass Underdogs aus dem Ghetto nur über diesen Sport aufsteigen können, wird hier freilich die Bedeutung der Bildung für diesen gesellschaftlichen Aus- und Aufstieg herausgestrichen.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos und im Skino in Schaan. - Ab 24. November auf Netflix
Trailer zu "Hillbilly Elegy"
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