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  • AutorenbildWalter Gasperi

Filmbuch: King Vidor


Anlässlich der heurigen Retrospektive der Berlinale ist bei Bertz + Fischer ein deutsch-englischer Prachtband zu King Vidor (1894 – 1982) erschienen, der vielfältige neue Einblicke in das Werk eines inzwischen weitgehend vergessenen Meisters des klassischen Hollywood bietet.


Von den Anfängen Hollywoods bis zum Niedergang des Studiosystems Ende der 1950er Jahre spannte sich die Karriere King Vidors. 1894 geboren gehört er zu den Filmemachern, die die Entstehung des Films und dessen Entwicklung von einer Jahrmarktsattraktion zu einer Kunst, die Ausprägung einer differenzierten Filmsprache und den Weg vom Stummfilm zum Tonfilm und von Schwarzweiß zu Farbe direkt miterlebten.


Fallen einem bei seinem Namen vielfach nur die Stummfilmklassiker „The Big Parade“ und „The Crowd“ sowie der Überwestern „Duel in the Sun“ ein, so macht diese Publikation auf gut 200, auch vorzüglich bebilderten Seiten bewusst, wie vielfältig und modern Vidors Werk ist.

Nicht chronologisch werden dabei die Filme analysiert, sondern in sechs Essays blicken renommierte internationale Autoren auf bestimmte Aspekte und Genres, drei Beiträge widmen sich einzelnen Filmen.


Während der britische Stummfilmexperte Kevin Brownlow die Vielfalt und den für damalige Verhältnisse feministischen Anstrich von Vidors Stummfilmen herausarbeitet und dabei in die Filmbeschreibungen persönliche Erfahrungen bei Interviews mit dem Meisterregisseur einbaut, zeigt Hans-Helmut Prinzler in seinem Essay auf, wie die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Filme wie „The Crowd“, „Our Daily Bread“ oder auch „Japanese War Bride“ einflossen.


Aber auch den Einfluss von Murnaus befreiter Kamera in „Der letzte Mann“ auf das Großstadtdrama „The Crowd“ und die originelle Kameraarbeit von „Street Scene“, mit der das Aufkommen von Monotonie in dem einzig auf einer Straße vor einem Wohnblock spielenden Film verhindert wurde, arbeitet Prinzler anschaulich heraus.


Francoise Zamour fokussiert auf der Rolle des Melodramatischen in Vidors Werk von der Stummfilmzeit bis zu den 1950er Jahren. Plastisch wird dies durch die präzise Beschreibung von einzelnen Szenen in „The Crowd“ oder der Handlung von „Stella Dallas“, der ein „Spitzenplatz in der feministischen Filmtheorie einnimmt“ (S. 123), vermittelt. Die Autorin blickt dabei vor allem auf die Rolle der Frauen, die vielfach stärker als die Männer sind und sich in den späteren Filmen wie „Duel in the Sun“, „Beyond the Forest“ oder „Ruby Gentry“ auch aufgrund der Besetzung mit den starken Schauspielerinnen Jennifer Jones und Bette Davis von gesellschaftlichen Konventionen lösen und ihren eigenen Weg gehen.


Bert Rebhandl wiederum setzt sich mit Vidors Western auseinander, durch die sich als Bindeglieder der Gegensatz von freiem Land und Monopolisierung durch Großrancher sowie die Umgestaltung dieses freien Landes in ein zivilisiertes und sicheres Land ziehen. Carlo Chatrian dagegen widmet sich den männlichen Protagonisten Vidors, die stets in Bewegung sind – entweder äußerlich oder innerlich – und sich im Laufe der Filme verändern.


Lisa Gotto analysiert das Musical „Hallelujah“, bei dem Vidor mit einem rein afroamerikanischen Cast arbeitete. Die Autorin arbeitet dabei plastisch anhand von Handlung und Inszenierung die Grenzgänge dieses Films zwischen Stummfilm und Tonfilm, vor allem aber zwischen Religion und Sex und die fließenden Übergänge von Spiritualität und Sexualität heraus. Aber auch die Klischeebilder von afroamerikanischem Leben, die durch diesen Film geprägt wurden, spart Gotto nicht aus.


Heinz Emigholz blickt dagegen auf den Architekturfilm „The Fountainhead“ vor dem Hintergrund von Bauhaus und Architekten wie Frank Lloyd Wright, während Rainer Rother Vidors letzten Hollywoodfilm „Solomon and Sheba“ analysiert und dessen Entstehung ebenso beleuchtet wie die Folgen des Tods von Hauptdarsteller Tyrone Power und dessen Nachbesetzung mit Yul Brynner. Aber der Autor und Mitherausgeber wirft auch einen Blick auf Vidors nie realisierten weiteren Projekte und seine Offenheit gegenüber dem europäischen Autorenfilm.


Schwärmerisch feiert schließlich Martin Scorsese diesen Meister des klassischen Hollywood-Kinos und äußert sich – mit Beschreibung zahlreicher Szenen - begeistert über die Dynamik von Vidors Filmen, in dem sein Glaube an die immer weiter voranschreitende Menschheit zum Ausdruck komme.


Rundum gelungen ist diese auch vorzüglich layoutierte zweisprachige Publikation, die durch eine Chronik zu Leben und Werk Vidors sowie ein Personenregister abgerundet wird. Die Essays sind fundiert und sehr informativ, aber nie akademisch, sondern immer auch persönlich und bieten großen Lesegenuss. So öffnen diese Streifzüge durch ein sich über 40 Jahre spannendes Werk neue Einsichten, die die nächste Begegnung mit den Filmen Vidors sicherlich wesentlich bereichern.


Karin Herbst-Meßlinger, Rainer Rother (Hg), King Vidor, Zweisprachig Deutsch / Englisch, Bertz + Fischer, Berlin 2020. 252 S., ISBN 978-3-86505-265-0, € 29

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