Nach zwei Bänden über das Kino von der Nachkriegszeit bis Dogma 95 widmet sich der erste Band der von Thomas Christen herausgegebenen "Einführung in die Filmgeschichte" der Zeit von den Anfängen des Films bis 1945. – Kein akademisches Werk, sondern eine gut lesbare und sehr informative Lektüre für Einsteiger, bei der aber auch Kenner auf ihre Kosten kommen.
Ein weiter Weg war es bis zu diesem ersten Band der im Schüren Verlag erschienenen "Einführung in die Filmgeschichte". Schon 2008 erschien der dritte Band, der sich dem Abschnitt "Von New Hollywood bis Dogma 95" widmete, 2016 folgte dann unter dem Titel "Vom Neorealismus bis zu den Neuen Wellen" der zweite Band. Nicht nur als Einzelband, sondern auch als Paket, das neben den drei Büchern auch die sieben DVD umfassende Box "Filmgeschichte weltweit" enthält, wird das komplette Opus nun angeboten.
Abgeschlossen ist das auf ursprünglich drei Bände angelegte Werk damit aber nicht, denn aufgrund der langen Entstehungszeit gehört "Dogma 95" inzwischen schon der Geschichte an, sodass sich ein vierter Band zum "Kino der Gegenwart" in Planung befindet.
Vorerst aber gibt es einmal den Band zu den Anfängen des Films: Ausgehend von einer knappen Skizzierung der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung von 1895 bis 1945 werden darin in vier großen Blöcken, die wieder in Unterkapitel gegliedert sind, die nationalen filmischen Entwicklungen geschildert.
Während Herausgeber Thomas Christen Kennzeichen des frühen Films, der Serials und des Slapstick herausarbeitet und die Entwicklung vom Kurzfilm zum Langfilm beleuchtet, wurde beim Abschnitt über die frühen italienischen Monumentalfilme und den Divenkult auf einen älteren Beitrag von Viktor Sidler zurückgegriffen. Wie bei den meisten Beiträgen steht dabei weniger die Analyse einzelner Spielfilme im Zentrum als vielmehr die Vermittlung des Typischen.
Das frühe skandinavische Filmschaffen mit dem Dreigestirn Victor Sjöström, Mauritz Stiller und Carl Theodor Dreyer darf so wenig fehlen, wie ein Blick auf die Entstehung Hollywoods. Den Fokus richtet Christen bei letzterem auf das Studio- und Starsystem, arbeitet aber auch die Merkmale der klassischen Narration heraus und stellt den Pre-Code-Filmen die aus dem Production Code resultierende Selbstzensur der Studios gegenüber.
Das avantgardistische französische Kino der 1920er Jahre wird ebenso vorgestellt wie die Merkmale des russischen Revolutionsfilms sowie deren Protagonisten von Lew Kuleschow, Sergej Eisenstein, Wsewolod Pudovkin und Alexander Dowschenko bis zu Dziga Wertow.
Nicht nach Regisseuren gliedert Christen den ausführlichen Abschnitt über das Weimarer Kino, sondern vielmehr nach Themen, Stilrichtungen und Genres vom expressionistischen Film und der Filmfirma Ufa über den Bergflm, den proletarischen Film, den Kammerspielfilm und den Straßenfilm bis zu Literaturverfilmungen, Psychoanalyse im Weimarer Film, den Avantgardefilm und den Übergang zum Tonfilm.
Spannend ist der Blick auf die wenig bekannte erste Goldene Ära des japanischen Films in den 1920er und 1930er Jahren, bei dem neben den experimentellen "Kurutta Ippeji" und "Jujiro" nicht nur die Frühwerke von Ozu, Mizoguchi, Naruse und Kurosawa , sondern auch die beiden doch weitgehend unbekannten Filme "Ninjo kami fusen" und "Kanzashi" vorgestellt werden.
Breiter Raum wird auch technischen Umbrüchen eingeräumt. So widmet sich Martin Girod dem Beginn des Tonfilms und setzt sich mit sechs Legenden zu dieser Umbruchsphase und Alan Croslands als "erstem Tonfilm" geltenden "The Jazz Singer" auseinander. Auch zeitgenössische Kommentare zur Einführung des Tonfilms von einem "Flugblatt gegen den Tonfilm" über ein Manifest sowjetischer Regisseure bis zum Franzosen René Clair finden sich hier. Barbara Flückiger bietet dagegen Einblick in die Entwicklung des Technicolorfilms und analysiert als Musterbeispiele John M. Stahls "Leave Her to Heaven" und Howard Hawks´ "Gentlemen Prefer Blondes".
Dem sonst meist wenig beachteten Sozialistischen Realismus in der Sowjetunion der 1930er Jahre widmet sich ebenso ein Kapitel wie dem Französischen Vorkriegskino. Neben dem Poetischen Realismus, dessen Merkmale sehr übersichtlich knapp zusammengefasst werden, werden dabei auch das Volksfrontkino und das französische Filmschaffen unter der deutschen Okkupation beleuchtet.
Wie alle Kapiteln leitet Christen auch das über das "Kino des New Deal" mit einer kurzen Darstellung des historischen Hintergrunds ein. Klassiker wie King Vidors "Our Daily Bread", die Busby Berkeley-Musicals, Chaplins "Modern Times" oder die Filme von Frank Capra dürfen dabei freilich nicht fehlen, aber auch weitgehend unbekannte Film wie Gregory La Cavas "Gabriel Over the White House" oder Michael Curtiz´s Arbeiterfilm "Black Fury" werden hier vorgestellt. Auch Lincoln als Leitfigur in Krisenzeiten oder dem Production Code als moralischer Regulator widmen sich Abschnitte.
Spannend ist auch der Beitrag von Sabina Brändli über das Nazi-Kino, die zunächst der Frage nachspürt, ob alle in der Zeit des Dritten Reichs gedrehten Filme Propagandafilme waren, um anschließend "Der ewige Jude", "Jud Süss" und Leni Riefenstahls "Olympia" ausführlich zu analysieren und deren propagandistischen Techniken herauszuarbeiten. Abgeschlossen wird der Band mit einem Beitrag von Christen zum frühen Film noir, in dem prägnant die Merkmale dieser filmischen Richtung dargestellt werden.
Der Anspruch, "Studierenden der Filmwissenschaft, LehrerInnen, JournalistInnen sowie neugierigen Kinoliebhabern, die in die Geschichte des internationalen Films eintauchen wollen", eine ebenso informative wie gut lesbare und leicht verständliche Einführung zu bieten, erfüllt diese "Einführung in die Filmgeschichte" hervorragend, aber auch für Kenner gibt es angesichts einiger Schmankerl Neues zu entdecken. Zudem regt nach jedem Kapitel eine ausführliche Bibliographie sowie eine Liste ausgewählter Filme an, sich eingehender mit dem Thema zu beschäftigen. Einzig ein Register zu Filmen und Personen, das ein leichtes Nachschlagen ermöglichen würde, vermisst man.
Thomas Christen (Hg.), Einführung in die Filmgeschichte 1: Von den Anfängen des Films bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Der internationale Film von 1895 bis 1945, Schüren, Marburg 2020. 426 S., ISBN 978-3-89472-496-2, € 38
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