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  • AutorenbildWalter Gasperi

Favolacce - Bad Tales


Mit schonungslosem Blick decken die Brüder Damiano und Fabio D´Innocenzo die Frustration und Aggression der unteren Mittelschicht auf, die am Stadtrand von Rom in einer Reihenhaussiedlung wohnt. Leidtragende sind dabei vor allem die Kinder. – Ein auch durch die formale Gestaltung beunruhigender und beklemmender Film.


"Eine wahre Geschichte, die auf Lügen basiert" kündet der unsichtbare und bis zum Schluss nicht klar bestimmbare Off-Erzähler an. Er berichtet, dass er das abrupt endende Tagebuch eines Mädchens gefunden habe, und erzählt von der TV-Nachricht über den Mord an einem Baby und dem Doppelselbstmord der Teenager-Eltern. Trotz Vorzeichen dafür habe niemand eingegriffen. – Erst am Ende werden die Brüder Damiano und Fabio D´Innocenzo zu dieser Bluttat zurückkehren.


"Schlimme Geschichten" heißt der Titel übersetzt und so alltäglich ist, was hier geschildert wird, so schockierend ist das auch. Als geschlossene Welt schildern die D´Innocenzos in ihrem zweiten Spielfilm, der bei der heurigen Berlinale mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, eine Reihenhaussiedlung im römischen Vorort Spinaceto. Erst am Ende öffnet sich ein Blick darüber hinaus, doch auch dieser Aufbruch scheint nicht in eine bessere Welt zu führen, sondern eher einen Abstieg zu bringen.


An Ulrich Seidls "Hundstage" erinnert "Favolacce" nicht nur in der Fokussierung auf der Vorstadt und dem Kleinbürgertum, sondern auch in der zeitlichen Verankerung im heißen Sommer. Ferien haben die Kinder zwar, aber die desaturierten Farben und das bleiche Licht lassen von Anfang an keine heitere Sommerstimmung aufkommen, sondern evozieren Unbehagen und Beunruhigung.


Der Frust der Väter, die den gesellschaftlichen Aufstieg nicht geschafft haben und stets einen Abstieg fürchten, entlädt sich hier immer wieder in Aggressionen, die Mütter bleiben passiv. Materiell geht es zumindest dem Großteil der Protagonisten zwar ganz gut, aber permanent ist die Unzufriedenheit spürbar. Lebensfreude scheinen diese Erwachsenen nicht zu kennen und können auch ihre Freizeit nicht genießen.


So hängen die Kinder allein herum. Während die einen schon als etwa 10-Jährige darüber reden Sex zu haben, ist ein anderer völlig verstummt. Keine Perspektive scheinen sie zu haben. Auch die Schule, die im Herbst wieder beginnt, fördert nicht Positives, sondern regt vielmehr zu aggressiven und destruktiven Taten an. Einzig in Gewalt gegen das ganze Viertel oder auch gegen sich selbst scheint sich so schließlich die Verzweiflung der Kinder entladen zu können.


Aus dem Milieu heraus entwickeln die D´Innocenzos ihren Film und erzählen multiperspektivisch von drei Familien. Wirklich nahe kommt man den Eltern aufgrund dieses Mäanderns und des Verzichts auf Hintergrundinformationen kaum, doch das Schicksal der auf sich gestellten, chancenlosen Kinder erschüttert.


Beunruhigung löst "Favolacce" dabei nicht nur dadurch aus, was gezeigt wird, sondern mehr noch dadurch, wie es gezeigt wird. Während Totalen einen Überblick über die Reihenhaussiedlung mit Ödland im Umfeld bieten, akzentuieren extreme, teilweise schon physisch unangenehme Groß- und Detailaufnahmen der Erwachsenen immer wieder deren Vulgarität, Frustration, Wut oder auch Lethargie.


Das Gegenteil eines Feelgood-Movies ist dieser grimmige Blick auf das Vorstadtmilieu. Auch der Verzicht auf Ursachenforschung und Erklärungen verstärkt das Unbehagen und auch am Ende gibt keine Erlösung, sondern die Traurigkeit wird mit dem Schlusslied "Passagio della vita" und dessen Refrain "bisogna morire" ("Du musst sterben") über das Filmende hinaus verlängert.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos. - z.B. im Kinok in St. Gallen und im Skino in Schaan


Trailer zu "Favolacce"



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