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  • AutorenbildWalter Gasperi

Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend


Acht Jahre nach "Heimat" setzte Edgar Reitz 1992 mit der 25-stündigen Serie "Die zweite Heimat" seine große deutsche Chronik fort. Bei StudioCanal sind die 13 Folgen auf sieben DVD und Blu-ray in digital restaurierter Fassung sowie digital als VoD - Video on Demand erschienen.


Spannte Edgar Reitz im 16-stündigen "Heimat – Eine deutsche Chronik" (1984) den Bogen vom Ende des Ersten Weltkriegs bis 1982 und verknüpfte die Lebensgeschichte Maria Simons und ihrer Familie mit der Geschichte des fiktiven Hunsrück-Dorfes Schabbach, so konzentriert sich "Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend" ganz auf die 1960er Jahre und die Studienzeit von Marias Sohn Hermann (Henry Arnold).


Nach seinem Abitur verlässt Hermann Schabbach und reist nach München, das für ihn zur zweiten Heimat wird. In der bayrischen Metropole studiert er Musik und taucht ins studentische Leben ein.


Wie Reitz in "Heimat" die Jahrzehnte im Hunsrück evoziert, so erweckt er auch in dieser Fortsetzung mit viel Gespür und großer Liebe zum Detail atmosphärisch dicht die 1960er Jahre zum Leben. Mit den Augen Hermanns lässt er in der ersten Folge die Zuschauer:innen erfahren, wie neu und aufregend für den jungen Mann die Großstadt ist und wie leidenschaftlich er die neue avantgardistische Musik aufsaugt, die er dort kennenlernt.


Gleichzeitig macht er auch viele Bekanntschaften vom jungen Chilenen Juan, der auch Musik studieren möchte, aber an der Hochschule nicht aufgenommen wird, über die Cellistin Clarissa, in die sich sowohl Hermann als auch Juan verlieben, bis zur Anwaltspraktikantin Renate, die sich in Herrmann verliebt, und einer Gruppe von innovativen Filmemachern.


Mit Hermann als Ich-Erzähler übernehmen die Zuschauer: innen zwar seine Perspektive, doch wird diese in den weiteren Folgen entsprechend der jeweiligen Untertitel wie "Juan 1960 - 1961" oder "Clarissa 1963", in denen die Wegbegleiter Hermanns besonderes Gewicht erhalten, geweitet. In multiperspektivischer Erzählweise wechselt so Reitz zwischen den unterschiedlichen Protagonist:innen und lässt dabei die jeweiligen Hauptfiguren der einzelnen Folgen zu Ich-Erzähler:innen werden.


Da kann dann in der dritten Folge "Eifersucht und Stolz" auch Hermann zur Randfigur werden und der Fokus weitgehend auf Evelyne liegen. Und während andere Folgen sich über einen größeren zeitlichen Rahmen erstrecken, spielt sich die Handlung dieser Folge nur an wenigen Tagen ab und der Gegenwärtigkeit anderer Folgen steht mit der Suche Evelynes nach ihrer leiblichen Mutter ein stärkeres Eintauchen in die Kriegszeit gegenüber.


Andererseits stehen Evelyne und ihr Freund Ansgar in der vierten Folge "Ansgars Tod", in der nicht nur mit dem Titel, sondern auch schon am Beginn mit dem Voice-over Hermanns das tragische Ende vorweggenommen wird, nur teilweise im Zentrum, verschwinden dann aber über weite Strecken wieder zugunsten von Hermann und Clarissa.


Wunderbar befreit und befreiend wirkt "Die zweite Heimat" in diesem Flottieren zwischen den Figuren. Weitere Beispiele für den erzählerischen Variantenreichtum ist die Art, wie Reitz - wie schon in "Heimat" - leichthändig zwischen farbigen Szenen und gestochen scharfen schwarzweißen Passagen wechselt.


Bestechend ist aber auch, wie die privaten Geschichten Hermanns und seiner Freund:innen mit zeitgeschichtlichen Ereignissen wie dem Bau der Berliner Mauer oder dem Aufkommen des Neuen Deutschen Films verbunden werden. Dieser Aspekt wird aber nie besonders forciert, da ja auch im Leben der jungen Protagonist:innen die privaten Beziehungen im Zentrum stehen, Weltgeschichte sie aber zumindest zu Beginn der 1960er Jahre noch kaum zu interessieren scheint.


Mit 25 Stunden Erzählzeit für die zehn Lebensjahre Hermanns nimmt sich Reitz viel Zeit, doch "Die zweite Heimat" braucht diese Zeit. Erst mit dieser Fülle an kleinen Szenen und Nebenfiguren gewinnt dieser Film seinen Reichtum und seine Dichte, entwickelt sich über die Geschichte Hermanns hinaus zum vielschichtigen und schillernden Porträt einer Jugend und eines Jahrzehnts.


An Sprachversionen bieten die sieben bei StudioCanal in digital restaurierter Fassung erschienenen DVD und Blu-ray die deutsche Originalfassung, zu denen Untertitel für Hörgeschädigte zugeschaltet werden können. Als Extras gibt es ein Booklet und die 90-minütige Dokumentation "Ein Wochenende mit Edgar Reitz: Die Premiere der restaurierten 'Zweiten Heimat' 2022".


Trailer zu "Die zweite Heimat - Chronik einer Jugend"


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