Eine junge Frau kehrt, im Rollstuhl sitzend, in ihr Heimatdorf zurück, das sie vor Jahren verlassen hat. Langsam werden Schuldgefühle, verdrängte Trauer und Schmerz sichtbar, die eine Familie zerbrechen ließen: Ein starkes, atmosphärisch dichtes und intensiv gespieltes Langfilmdebüt des Drehbuchautors Karsten Dahlem.
Mit Vollgas rast die junge Chrissie (Anna Maria Mühe) bei einer Stuntshow mit ihrem Wagen über eine Rampe – in der nächsten Einstellung sitzt sie im Rollstuhl und hat schon eine Reha hinter sich. Mit einer französischen Kollegin ist sie im Auto unterwegs in ihr in der deutschen Provinz gelegenes Heimatdorf. Im Blick auf Felder und Häuser spürt man einerseits die Unsicherheit Chrissies und ihre Ablehnung gegen diese erzwungene Rückkehr, andererseits verankert Karsten Dahlem, der sich bislang durch die Drehbücher für "Freier Fall" und "Fremde Tochter" einen Namen gemacht hat, die Handlung dadurch auch schon in diesem provinziellen Milieu.
Frostig ist das Wiedersehen Chrissies mit ihrem Vater (Michael Wittenborn), den sie rund sieben Jahre lang nicht mehr gesehen hat. Angeschlagen wirkt auch dieser ehemalige Polizist mit seinem Dreitagebart. Verstärkt wird die bedrückende Stimmung auch durch das heruntergekommene Einfamilienhaus.
So schnell wie möglich will Chrissie weg, doch da sie als Stuntfrau über Jahre hinweg fast nie versichert war, ist sie auf die finanzielle Unterstützung des Vaters angewiesen, um eine Sozialwohnung mieten zu können. Dieser ist zwar bereit ihr den Bausparvertrag zu überschreiben, doch dazu ist auch die Unterschrift der Mutter nötig, über deren Verbleib man lange nichts erfährt.
Mehr sollte man über die Handlung von Karsten Dahlems Langfilmdebüt nicht verraten, denn ganz entscheidend lebt "Die Geschichte einer Familie" vom sukzessiven Aufdecken der Vorgeschichte. In bruchstückhaften Rückblenden gewinnt man langsam einerseits Einblick in eine glückliche Jugend mit Freunden und liebevoller Familie, andererseits aber auch in ein traumatisches Ereignis, nach dem nicht nur Chrissies Leben, sondern auch das ihrer Familie und ihrer Freunde nicht mehr dasselbe war wie vorher.
Sukzessive weitet sich so das Bild, werden nicht nur Schuldgefühle sichtbar, sondern auch nie verarbeitete Trauer und verdrängter Schmerz, aber auch Lügen, die das Weiterleben belasten. Im unaufgeregt-ruhigem Erzählrhythmus lässt Dahlem seinen SchauspielerInnen viel Raum ihre Verzweiflung und ihre Zerrissenheit zu vermitteln. Leise Momente wechseln dabei immer wieder mit heftigen Konfrontationen, in denen Vater und Tochter ihre Wut hinausschreien.
Großartig harmonieren Anna Maria Mühe und Michael Wittenborn in den Hauptrollen. Sie machen die Bruchlinien und Wunden in ihrem Leben und ihrer Beziehung bewegend erfahrbar und vermitteln eindrücklich, wie schwierig es ist, sich der Wahrheit zu stellen, sich zu öffnen und wieder auf den anderen zuzugehen.
In der kunstvollen Konstruktion, bei der auch Schwarzblenden immer wieder Pausen setzen, wird auch plastisch entfaltet, wie eine Familie durch ein einziges Ereignis zerbrechen kann. Berührend wird dabei "Die Geschichte einer Familie" vor allem durch Dahlems empathischen Blick auf seine innerlich schwer lädierten und immer noch an der Vergangenheit leidenden Protagonist:innen.
Etwas abrupt mögen da teilweise zwar Stimmungsschwankungen erfolgen, wenn unmittelbar auf Momente der Annäherung wieder heftige Konflikte folgen, doch insgesamt bleibt dieses Debüt haften. Das liegt auch daran, dass Dahlem nicht nur von der schweren Last eines traumatischen Ereignisses erzählt, sondern auch zeigt, dass ein befreites Leben nur durch Auseinandersetzung mit diesem Trauma und eine Verarbeitung der Trauer und des Schmerzes möglich ist und damit am Ende auch Hoffnung macht.
Die Geschichte einer Familie Deutschland 2022 Regie: Karsten Dahlem mit: Anna Maria Mühe, Michael Wittenborn, Anton Spieker, Walid Al-Atiyat, Therese Hämer, Victoire Laly, Casper von Bülow Länge: 83 min.
Läuft derzeit in den österreichischen Kinos
Trailer zu "Die Geschichte einer Familie"
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