Mit einem Porträt familiärer Spannungen schließen die Schweizer Zwillingsbrüder Ramon und Silvan Zürcher ihre "Tier"-Trilogie ab: Ein von einem großartigen Ensemble getragenes und mit Fingerspitzengefühl inszeniertes, meisterhaftes Psychogramm.
Nachdem Ramon und Silvan Zürcher schon in ihrem Debüt "Das merkwürdige Kätzchen" (2013) von unterschwelligen familiären Spannungen erzählten und im Zentrum von "Das Mädchen und die Spinne" (2021) die Ablösung zweier Freundinnen durch einen Umzug stand, geht es im abschließenden Teil ihrer "Tier"-Trilogie wieder um eine Familie.
Idyllisch liegt das Haus, in dem Karen (Maren Eggert) aufgewachsen ist und in das sie mit ihrem Mann Markus (Andreas Döhler) und ihren drei Kindern zurückkehrte, zwar in einer Wiese am Rand von See und Wald, doch schon die krächzenden schwarzen Kormorane auf der kleinen Insel verbreiten eine beunruhigende Stimmung. In Opposition zum Gefühl der Wärme, das das durchs Blattwerk fallende Sommerlicht ausstrahlt, steht nämlich die Kälte und Zurückhaltung Karens.
Wie der Spatz, der sich bald in den Kamin verirrt, aber befreit werden kann, später aber nochmals in den Kamin fliegt, wirkt sie gefangen in ihrem Leben – oder auch in ihrer Vergangenheit. Denn langsam werden im Laufe der zwei Tage, über die sich die Handlung erstreckt, Familiengeheimnisse gelüftet.
Nicht nur ihr Mann Markus, ihr etwa zwölfjähriger Sohn Leon (Ilja Bultmann) und ihre etwa fünfzehnjährige Tochter Johanna (Lea Zoë Voss) sind anwesend, sondern anlässlich des Geburtstags von Markus, kommt auch Karens Schwester Jule (Britta Hammelstein) mit ihrem Mann Jurek (Milian Zerzawy) und ihren beiden Kindern sowie die zweite Teenager-Tochter Christina, die es offensichtlich in der familiären Enge nicht mehr ausgehalten hat und im Ausland lebt.
Vor allem im Vergleich zu den anderen Familienmitgliedern, aber auch zur jüngeren Nachbarin Liv (Luise Heyer) tritt Karens Kälte und Distanziertheit deutlich zu Tage. Während die offene und lebensfrohe Jule, aber auch Karens Mann Markus alle umarmt, ist sie selbst zu einer körperlichen Berührung kaum fähig, bleibt auch auf Distanz zu Christina, die sich kurz nach ihrer Ankunft doch lieber ins Badezimmer zurückzieht.
Während die Zürchers in ihren ersten beiden Filmen sanfte Töne anschlugen, Leichtigkeit die Filme bestimmte und die Spannungen unterschwellig blieben, brechen sie in "Der Spatz im Kamin" offen durch. Verbal heftig zur Sache geht es, wenn Karen zu Johanna, deren Handgelenke versteifen, sagt "Glaub bloß nicht, dass ich dich schone, nur weil du ein Krüppel ist" und Johanna antwortet "Glaub bloß nicht, dass ich dich liebe, nur weil du meine Mutter bist".
Langsam beginnt aber auch der zunächst zurückhaltende Leon gegen die Mutter zu rebellieren, wenn er zu ihr sagt "Ich hasse dich. Ich wünschte, du wärest tot". Doch auch physische Gewalt fehlt nicht, wenn Leon von seinen Mitschülern offensichtlich zum wiederholten Male verprügelt wird, nicht nur ein Huhn, sondern auch die Hauskatze brutal getötet werden, Johanna in der Schule mit einem Zirkel, Leon in der Küche mit einem Messer auch gegen sich selbst aggressiv werden und Karen sich gezielt mit heißem Wasser die Hand verbrüht oder Glasscherben in der Hand zerdrückt.
Immer wieder beobachten sich auch die Familienmitglieder und die Gäste durch Türen oder Fenster und bekommen so auch Dinge mit, die nicht für ihre Ohren bestimmt sind. Keinen Raum der Intimität scheint es in diesem Haus zu geben, in dem die Zimmerschlüssel entfernt wurden.
Weitgehend auf Haus, Garten und das benachbarte Waldhaus, in dem Liv wohnt, konzentriert, zeichnen die Zürchers ein dichtes Psychogramm dieser Familie. Im Zentrum steht dabei zwar Karen, doch auch die anderen, von einem großartigen Ensemble gespielten Figuren gewinnen Profil. Leichthändig wechselt der Film, dessen statischen Einstellungen die Erstarrung Karens nach außen kehren, zwischen den einzelnen Mitgliedern und arbeitet ihren unterschiedlichen Charakter heraus.
Aber auch wenn die Filmemacher Ingmar Bergman und dessen bohrenden Seelendramen als Vorbild nennen, so strahlt "Der Spatz im Kamin" trotz der heftigen Konflikte durch die Offenheit Jules und Livs doch immer wieder Leichtigkeit aus und wird nie zum schweren und quälenden Drama. Ganz wesentlich liegt das auch an der Kunst Ramon Zürchers, der hier allein für Regie und Drehbuch verantwortlich zeichnet, während Silvan die Produktion übernahm, den Film perfekt im sommerlichen Ambiente zu verankern, der souveränen Arbeit mit unterschiedlichsten Geräuschen, Musik und Stille sowie den prägnanten Dialogen.
Jede Einstellung und jeder Schnitt sind hier mit Bedacht gewählt und großartig ist auch die Einbeziehung zahlreicher Tiere. Denn da gibt es eben nicht nur den Spatz, die Kormorane auf der Insel, zwei Hunde und eine Katze, sondern in die Handlung integriert sind auch eine Ratte über die gesagt wird, dass sie nach ihrer Stillzeit vergesse, wer ihre Mutter sei, Raupen auf den Zimmerpflanzen, und eine Seescheide im Aquarium, über deren Unbeweglichkeit gesprochen wird. Gleichzeitig sorgen die wiederkehrenden Schmetterlinge und Glühwürmchen für Momente der Poesie und strahlen eine Fluidität und Beweglichkeit aus, die in Opposition zur Verhärtung und Unbeweglichkeit Karens stehen.
Wie "Das merkwürdige Kätzchen" und "Das Mädchen und die Spinne" zeichnet so auch diesen Film die Präzision und das Fingerspitzengefühl der Inszenierung aus, doch ein Unterschied besteht nicht nur im aggressiveren Umgang der Figuren. Denn fokussierten die ersten beiden Filme ganz auf das Hier und Jetzt, so kommen hier einerseits mit familiären Altlasten die Vergangenheit, andererseits aber auch Träume ins Spiel.
Wie die Nachbarin Liv mit ihrer Vergangenheit abschloss, indem sie das Haus ihres Ex-Manns abfackelte und dafür für einige Zeit in die Psychiatrie wanderte, so ist wohl auch für Karen erst nach Abschluss mit der Familiengeschichte ein Neubeginn und eine innere Befreiung möglich: Zumindest im Traum muss dazu das Alte und Vergangene in Flammen aufgehen.
Der Spatz im Kamin Schweiz 2024 Regie: Ramon Zürcher mit: Maren Eggert, Britta Hammelstein, Luise Heyer, Andreas Döhler, Lea Zoë Voss, Milian Zerzawy, Ilja Bultmann Länge: 117 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan. - In den deutschen Kinos ab 10.10. und dmnächst auch in den österreichischen Kinos.
Trailer zu "Der Spatz im Kamin"
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