Auch bei der heurigen Ausgabe des Linzer Filmfestivals zieht sich der Blick auf gesellschaftliche Realitäten in Europa durch viele Filme. Bruchlinien spüren dabei Ali Vatansever in „Saf“ und der Brite Mark Jenkins in „Bait“ nach, während Lucia Chiarla in „Reise nach Jerusalem“ dem Sturz einer arbeitslosen Berlinerin in die zunehmende Verzweiflung folgt.
Crossing Europe fokussiert nicht nur auf europäische Filme, sondern zeigt dabei auch vielfach Filme, die die aktuelle Situation in den Entstehungsländern oder bestimmten Regionen erkunden und kritisch beleuchten. Der Türke Ali Vatansever erzählt in „Saf“ im Kern die Geschichte eines jungen Paares in Istanbul, damit verknüpft ist aber unweigerlich ein Blick auf den Wandel der Metropole am Bosporus und die gesellschaftlichen Bruchlinien, die sich damit verschärfen.
Dem Altstadtviertel, in dem Kamil mit seiner Frau lebt, stehen die allerorten wuchernden Bauprojekte gegenüber. Weil Kamil diese ablehnt, will er zunächst keinen Job bei einer Baufirma annehmen, springt dann aber doch ein, als ein syrischer Baggerfahrer sich verletzt. Weil er billig schwarz arbeitet, zieht er sich aber den Zorn seiner türkischen Kollegen auf sich, gleichzeitig kommt es aber auch zum Konflikt, mit dem Syrer, dessen Job er übernommen hat.
Folgt Vatansever im ersten Teil vorwiegend den Schritten Kamils, rückt im zweiten Teil seine Frau in den Mittelpunkt, die als Reinigungsfrau in der Luxuswohnung einer reichen Dame arbeitet.
Mit Gentrifizierung Istanbuls, zunehmendem Gegensatz von Oberschicht und Unterschicht, Situation der Arbeiter und Migration packt Vatansever etwas zu viel in seinen Film. Richtige Durchschlagskraft will das ruhig erzählte Drama nicht entwickeln, wie aber aus der Geschichte des Paares heraus ganz selbstverständlich ein vielschichtiges und breites Bild des heutigen Istanbul gezeichnet wird, beeindruckt doch.
Bruchlinien in einem Fischerdorf in Cornwall deckt dagegen Mark Jenkins in Bait“ auf. Dem alteingesessenen Fischer Martin, der von der Fischerei kaum mehr leben kann, steht hier eine Touristenfamilie aus der Stadt gegenüber, die ein Ferienhaus am Hafen gekauft hat. Während Martins Bruder Steven mit den Touristen ein Geschäft macht, indem er Küstenrundfahrten mit seinem Boot anbietet, legt es Martin auf eine Konfrontation an.
Das klingt nach einer geradlinig erzählten Geschichte, doch Jenkins beschreitet formal ganz eigene Wege. Wie Martin für das alte Fischergewerbe eintritt, erinnert auch Jenkins an längst vergangene Zeiten des Kinos. In Schwarzweiß und auf 16mm Film drehte er „Bait“ und entwickelte das Material händisch, sodass sich auch zahlreiche Filmfehler und Kratzer finden.
Auch erzählt Jenkins nicht linear, sondern arbeitet mit Wiederholungen und Rückblenden, bricht Szenen auch abrupt ab, lässt Gegensätze wie die Handgriffe beim Herrichten der Netze und das Füllen des Kühlschranks durch die Touristin aufeinanderprallen oder akzentuiert immer wieder Momente durch Detailaufnahmen der Augenpartien oder eine überzogene Tonspur.
Zweifellos virtuos spielt Jenkins mit dem Filmmaterial und zelebriert seine Kunstfertigkeit, der sozialrealistische Aspekt scheint aber doch unter dieser Artistik, deren Zurschaustellung auch prätentiös wirkt, zu leiden.
Auf einen genauen Blick für Situationen und Details sowie eine starke Eva Löbau in der Hauptrolle setzt dagegen Lucia Chiarla in ihrem Spielfilmdebüt „Reise nach Jerusalem“. Wie in dem titelgebendem Kinderspiel sitzt die 39-jährige Texterin und Online-Redakteurin Alice gleichsam zwischen allen Stühlen. Immer betont sie zwar, dass sie als Freelancerin für zahlreiche Kunden arbeite und es ihr gut gehe, in Wahrheit ist sie aber arbeitslos.
Chiarla fokussiert ganz auf ihre Protagonistin und zeichnet treffend die sich verschärfende finanzielle Lage, den Versuch die Fassade aufrecht zu erhalten und die zunehmende Verzweiflung nach. Karikaturistische Überzeichnungen fehlen hier bei der Schilderung von Bewerbungskursen des Arbeitsamts oder kleinen Jobs für Marktforschungsinstitute nicht, aber es sind solche komödiantischen Momente, die diese bittere Komödie eines schleichenden Niedergangs und damit verbundener sozialer Isolation erträglich machen.
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