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  • AutorenbildWalter Gasperi

Crossing Europe 2019: Frisches und eigenwilliges Autorenkino

Aktualisiert: 1. Mai 2019


Filme mit Ecken und Kanten, eigene Handschriften und inhaltliche Relevanz zeichneten auch die 16. Auflage des Linzer Filmfestivals aus. Der mit 10.000 Euro dotierte Crossing Europe Award für den besten Spielfilm ging an Natasha Merkulovas und Aleksey Chupovs „The Man Who Surprised Everyone“, der mit 5000 Euro dotierte Social Awareness Award für den besten Dokumentarfilm an Thomas Heises „Heimat ist ein Raum aus Zeit“.


Auch bei einem kleineren Filmfestival wie Crossing Europe kann man sich angesichts von rund 150 Filmen in rund einem Dutzend Programmschienen kaum mehr einen echten Überblick verschaffen – zumal wenn man das Festival nur knapp drei Tage besuchen kann.


Entweder kann man folglich in die verschiedenen Programmschienen hineinschnuppern oder sich auf bestimmte konzentrieren. Aufgrund der Entscheidung für Letzteres konnten fast nur Filme des Spielfilmwettbewerbs besucht werden, diese boten aber wieder das für Linz gewohnte, handverlesene und vielfältige Programm.


Einen packenden Einblick in die Verfassung junger türkischer Männer in Deutschland bietet Akif Büyükatalay in seinem schon bei der Berlinale preisgekrönten „Oray“. Differenziert schildert er, unterstützt vom großartigen Zejhun Demirov in der Hauptrolle, die Zerrissenheit seines jungen Protagonisten zwischen islamischen Regeln und westlichem Leben.


In einem Streit hat Oray seine Frau Burcu per Handy mit dem Ausruf „talaq“ verstoßen und muss nun laut dem lokalen Imam drei Monate getrennt leben, ehe entschieden wird, ob die Scheidung auf Dauer vollzogen wird. Ganz so klar erscheint diese Regelauslegung aber nicht, denn bald wird ein anderer Imam erklären, dass die Scheidung schon jetzt endgültig vollzogen sei, falls Oray die Verstoßungsformel dreimal ausgesprochen hat.


Erklärt der junge Mann in einem Video zunächst seinen Mitbrüdern, dass einzig der Islam den Menschen Freiheit schenke, so wird mit Fortdauer des Films immer deutlicher, wie sehr gerade die religiösen Regeln diese Freiheit einschränken.


In jeder Szene spürt man hier, dass der 32-jährige deutsch-türkische Regisseur das Milieu genau kennt und weiß, wovon er erzählt. Statt Stellung zu beziehen beschränkt er sich wohlweislich darauf abseits von Klischeebildern eine differenzierte und intensive Innensicht der männlichen türkischen Community in Deutschland zu bieten, die zu Diskussionen und einem Dialog anregen kann.


Milieuechtheit zeichnet auch den Beginn von Nadejda Kosovas „Irina“ aus. Beklemmend dicht und kompromisslos schildert die Bulgarin die tristen Lebensverhältnisse der jungen Mutter und Ehefrau irgendwo in der bulgarischen Provinz am Rande einer Autobahn. Illegal muss hier der Mann Kohle zum Heizen in einem stillgelegten Bergwerk beschaffen, während sie in der Küche eines Restaurants arbeitet und sich etwas dazuverdient, indem sie Essensreste sammelt und weiterverkauft.


Fast zu viel des Elends bürdet Kosova ihrer Protagonistin auf, als sie auch noch ihren Job und ihr Mann bei einem Unfall beide Beine verliert, sodass sie sich schließlich einem reichen Paar aus Sofia als Leihmutter anbietet.


Ins Spiel kommt damit zwar auch die große gesellschaftliche Spaltung, doch dieses Drama verliert damit auch an Intensität, denn allzu viele Wendungen schlägt einerseits die Handlung, andererseits beeinträchtigt auch das allzu versöhnliche Ende die Wirkung. Haften bleibt aber auf jeden Fall das Gesicht der rothaarigen Martina Apostolova als Irina, die entschlossen ihren Weg geht.


Anleihen beim Psychothriller nimmt dagegen die Polin Agnieszka Smoczyńska in ihrem zweiten Spielfilm „Fuga – Fugue“, in dessen Mittelpunkt eine Frau steht, die zwei Jahre verschwunden war und nun scheinbar ohne jede Erinnerung zu ihrer Familie zurückgebracht wird.


Ganz in Grau taucht Smoczyńska zunächst die Welt, bis mit den Gefühlen und der Erinnerung langsam auch Farben Einzug halten. Ruhig, aber konzentriert entwickelt die 41-jährige Regisseurin die Handlung, deckt langsam eine schwere Schuld und ein verschüttetes Trauma auf und fragt nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Rückkehr in das frühere Leben.


Klären sich in „Fuga – Fugue“ am Ende die Rätsel, so lässt der Schweizer Simon Jacquemet den Zuschauer bei seinem zweiten Spielfilm „Der Unschuldige“ ziemlich verstört zurück. Zunehmend verschwimmen nämlich bei diesem Drama um eine etwa 40-jährige Frau die Grenzen zwischen Realität und Wahn.


Zerrissen ist diese von Judith Hofmann mit vollem Einsatz gespielte Ruth von Anfang an zwischen ihrem Job in einem Tierlabor, in dem die Transplantation des Kopfes eines Affen vorbereitet wird, und ihrer Mitgliedschaft in einer konservativen christlichen Freikirche. In eine Krise stürzt sie aber erst, als ihre Jugendliebe nach 20 Jahren aus der Haft entlassen wird.


Eindrücklich evoziert Jacquemet mit winterlich kalten Bildern und der Dominanz von Grautönen ebenso wie durch den Verzicht von Filmmusik eine beklemmende und düstere Atmosphäre. Dazu kommt noch, dass er viele Szenen in Halbdunkel taucht oder in seltsamen kahlen Kellerräumen spielen lässt.


Gleichzeitig lässt „Der Unschuldige“ den Zuschauer aber auch etwas ratlos und frustriert zurück, da er ihm kaum Möglichkeiten bietet, sich ein differenzierteres Bild von der Verfassung Ruths und deren Ursachen zu machen. Spüren kann man freilich, dass sich bei ihr das Gefühl steigert im falschen Leben zu leben, einen falschen Kopf auf ihrem Körper zu haben.


Den originellsten Film des Wettbewerbs steuerte aber wohl die Deutsche Susanne Heinrich mit „Das melancholische Mädchen“ bei. Da macht Marie Rathscheck wohl als Alter Ego der Regisseurin gleich schon in der ersten Szene klar, dass das kein konventioneller Spielfilm wird. Nur mit einem Mantel aus Kunstpelz bekleidet steht sie vor einem Poster mit Palmen und türkisem Meer und reflektiert darüber, wie wenig sich melancholische Mädchen als Hauptfiguren eines Films eignen.


Statt eine Handlung zu entwickeln, lässt Heinrich ihre Protagonistin in 14 Episoden, die jeweils mit einer Titel eingeleitet werden, mit den Leuten, denen sie begegnet, über die Mutterrolle ebenso wie über die der Ehefrau, über Feminismus und ihre Depression diskutieren. Extrem stilisiert sind dabei immer die in kräftigen Farben gehaltenen Kulissen, meist in Frontalaufnahmen aufgenommen sind die Szenen.


Leicht könnte das kopflastig werden, doch Heinrich hat das mit so einer Verspieltheit und solchem Einfallsreichtum inszeniert, dass man sich bei diesem Debüt bestens unterhalten kann – und wie bei vielen Filmen von Crossing Europe auf kommende Arbeiten dieser Regisseurin gespannt sein darf.


Und trotz der Konzentration auf den Spielfilmwettbewerb konnte der Siegerfilm, da er nur am ersten und letzten Festivaltag lief, nicht gesehen werden. Die Jury jedenfalls begründete ihre Auszeichnung des sibirischen Taiga-Dramas „The Man Who Surprised Everyone“ damit, dass „Natasha Merkulova und Aleksey Chupov es möglich machen, den unvorhergesehen Beweisen Glauben zu schenken, dass dieser Mann, der zu einer Frau transformiert, gleichzeitig Gewalt, die Gegensätze und die Vorstellung der Gesellschaft verkörpert – er/sie ist die politische und poetische Figur eines zeitgenössischen Märtyrers.“


Die Verleihung des Social Awareness Award für den besten Dokumentarfilm an Thomas Heises dreieinhalbstündigen „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ begründete die Jury dagegen damit, dass dies „eine in jeder Hinsicht unangepasste, dichte und herausragende Arbeit <sei>, der es auf virtuose Weise gelingt uns zu entschleunigen und zeitgleich hellwache Konzentration herzustellen. Historische Kontinuitäten finden sich mit vielfältigen Rissen und Brüchen persönlicher Biografien verschränkt zu einer immersiven Familien Saga. Es entstehen kontemplative Zeit- und Bildräume, die kollektive und individuelle Erfahrungen des letzten Jahrhunderts erfahrbar machen.“ – Immerhin besteht die Möglichkeit dieses schon bei der Berlinale viel beachtete Werk am Mittwoch, den 1. Mai und am Dienstag, den 7. Mai am Spielboden Dornbirn zu sehen.


Einen Festivalbericht des FKC Dornbirn / Norbert Fink finden Sie hier

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