Berlinguer – La grande ambizione
- Walter Gasperi
- vor 2 Tagen
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Um eine Spaltung Italiens zu verhindern, strebte Enrico Berlinguer als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) Mitte der 1970er Jahre einen Kompromiss mit der Democrazia Cristiana an: Andrea Segre zeichnet in seinem Spielfilm, unterstützt von viel Archivmaterial, faktenreich das leidenschaftliche Engagement des charismatischen Politikers nach.
Ganz im Gegensatz zum Kino des deutschsprachigen Raums oder auch Frankreichs, wo es kaum oder keine nennenswerten Kino-Spielfilme über bedeutende Politiker der Nachkriegszeit wie beispielsweise Konrad Adenauer, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Bruno Kreisky, Charles de Gaulle oder François Mitterrand gibt, sind Politikerporträts in Italien geradezu ein fixer Bestandteil des Kinos.
So widmete sich Marco Bellocchio in "Buongiorno, notte" ("Der Fall Aldo Moro", 2003) der Entführung des ehemaligen Ministerpräsidenten, Paolo Sorrentino rechnete im schillernden "Il Divo" (2008) mit dem mehrmaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti ab und über Silvio Berlusconi gibt es mit Nanni Morettis "Il Caimano" (Der Italiener"", 2006) und Sorrentinos "Loro" ("Loro – Die Verführten", 2018) gleich zwei Spielfilme von bedeutenden Regisseuren.
Andrea Segre, der bislang vor allem mit Dokumentarfilmen und Spielfilmen über Venedig drehte ("Welcome Venice") bekannt wurde, zeichnet nun in seinem Spielfilm ein Porträt des charismatischen Enrico Berlinguer und seiner Bemühungen einen "Historischen Kompromiss" zwischen seiner kommunistischen Partei und der Democrazia Cristiana zu erreichen.
Wenn "Berlinguer – La grande ambizione" mit Archivbildern vom Sturz des demokratisch gewählten sozialistischen chilenischen Präsidenten Salvador Allende am 11. September 1973 einsetzt, überlagert und bestimmt dieses Ereignis auch Berlinguers Handeln. Geprägt von diesem Putsch will er eine ähnliche Entwicklung in Italien, eine Spaltung des Landes und die Intervention einer ausländischen Macht wie der USA unter allen Umständen verhindern.
Gleichzeitig distanziert der von Elio Germano großartig gespielte Kommunist sich aber auch von der Sowjetunion. Angedeutet wird so auch, dass hinter einem Autounfall in Bulgarien im Oktober 1973 ein Anschlag des KGB steckte, unübersehbar ist auch die ablehnende Reaktion der sowjetischen kommunistischen Partei unter Leonid Breschnew auf seine Rede beim 25. Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (PCUS) 1976 in Moskau, in der er entschieden für einen "Eurokommunismus" eintrat, der demokratische Grundsätze, freie Meinungsäußerung und Freiheit der Kunst hochhält.
Segre beschränkt sich auf die Jahre vom Sturz Allendes in Chile bis zu Entführung und Tod Aldo Moros im Mai 1978. Unterstützt von einer Fülle von Archivmaterial, das durch das kleinere Bildformat und die Grobkörnigkeit von den inszenierten Szenen abgehoben ist, zeichnet er ein Porträt Berlinguers zwischen liebendem Ehemann und fürsorglichem Vater und engagiertem Politiker, der speziell für die Arbeiterschaft und für das Recht auf Scheidung, das durch ein Referendum gefährdet wird, eintritt.
Segre zeigt, wie die KPI durch Berlinguers Engagement zur neben der Democrazia Cristiana zweiten großen politischen Kraft Italiens aufsteigt und nicht nur bei Kommunalwahlen gewinnt, sondern auch bei den Parlamentswahlen deutlich zulegt. Gleichzeitig wird aber das Land zunehmend von terroristischen Anschlägen erschüttert, sodass für Berlinguer nur eine Zusammenarbeit der gegensätzlichen politischen Kräfte für Stabilität sorgen und eine schwere innenpolitische Krise verhindern kann.
In von Brauntönen bestimmten Bildern, die eine muffige Atmosphäre evozieren, zeichnet Segre mit einer Fülle von Inserts zu Ort und Zeit der Sitzungen und Gespräche die Entwicklung nach. Förmlich erschlagen wird man mit Informationen, doch der 59-jährige Regisseur verabsäumt es, die Fakten und das Archivmaterial auch wirklich zu gestalten und zu verdichten.
Statt einzelne Szenen breiter zu entwickeln und ihnen Tiefe zu verleihen, werden Fakten an Fakten gereiht. Es fehlt gewissermaßen das Fleisch am Knochen und wenig wird wirklich auf den Punkt gebracht. Nicht durchgängig überzeugend ist auch die Verwendung des Archivmaterials, das teilweise ausdrucksstark, teilweise aber auch überflüssig ist, keine weiteren Einsichten eröffnet, sondern wohl nur verwendet wurde, weil es eben gerade verfügbar war.
So kommt "Berlinguer – La grande ambizione" zwar kaum über die sorgfältige, aber doch oberflächliche Nachzeichnung der Ereignisse hinaus, zeichnet aber auch ein – wenn auch hagiographisch verklärtes – eindrückliches Porträt eines Politikers, der mit seinem unermüdlichen Engagement für das Wohl Italiens, seiner zutiefst sozialen und demokratischen Haltung und seinem Bemühen um Kompromiss und Einheit für Segre wohl auch ein Vorbild für heutige Politiker:innen sein soll.
Berlinguer - La grande ambizione Italien / Belgien / Bulgarien 2024 Regie: Andrea Segre mit: Elio Germano, Elena Radonicich, Paolo Calabresi, Roberto Citran, Fabrizia Sacchi Länge: 123 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.
Trailer zu "Berlinguer - La grande ambizione"
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