
Anhand eines klassischen Bruderkonflikts leuchtet Andrea Segre das Spannungsfeld Venedigs zwischen langsam verschwindenden Traditionen und Tourismus aus: Ein ruhig erzähltes Familiendrama, das mit stimmigen Bildern von einer Lagunenstadt abseits der Besucher:innenströme punktet.
Venedig ist das große und wiederkehrende Thema des 1976 in der Nähe der Lagunenstadt geborenen Andrea Segre. 2011 erzählte er in "Io sono Li" ("Venezianische Freundschaft") von einer Chinesin, die in einer Osteria bei Venedig einen Job annimmt, um ihre Schulden abzuzahlen, und 2021 tauchte Segre im Dokumentarfilm "Moleküle der Erinnerung" in die während des Covid-19-Lockdowns im Frühjahr 2020 gespenstisch leere Stadt ein.
Segres Herkunft vom Dokumentarfilm sieht man auch immer wieder "Welcome Venice" an, wenn er geduldig mit der Kamera einfängt, wie die Fischer über die Kanäle fahren oder im Marschland die Moeche genannten Lagunenkrebse fangen.
Ein Vorspanninsert informiert, dass diese Krabbenfischerei in Venedig seit 500 Jahren gepflegt wird. Tradition hat dieser Beruf auch in der Familie von Toni (Roberto Citran) und Piero (Paolo Pierobon). Nachdem Piero eine Haftstrafe wegen eines Einbruchs abgesessen hat, hat Toni seinen Bruder wieder aufgenommen. Gemeinsam fahren sie nun hinaus, um Krebse zu fangen, während der dritte Bruder Alvise (Andrea Pennacchi) die Zukunft in der Vermietung von Wohnungen an Tourist:innen sieht.
Gemeinsam feiert die ganze Familie am Beginn noch Pieros 55. Geburtstag, doch als Toni überraschend stirbt, werden bald Risse in der Beziehung der Brüder sichtbar. Denn Alvise möchte das Familienhaus modernisieren und an Tourist:innen vermieten. Nicht nur seine eigenen Schulden könnte er damit bezahlen, sondern auch Tonis Witwe und deren in Rom studierender Sohn könnten das Geld gut brauchen, doch Piero stellt sich quer, möchte an seinem Beruf als Fischer festhalten und das Haus nicht aufgeben.
Schon durch ihr Äußeres streicht Segre die Gegensätzlichkeit der beiden Brüder heraus. Dem ungepflegten Piero mit zotteligem Bart und Arbeiterkleidung steht der stehts Anzug und Krawatte tragende Alvise gegenüber. Weil beide auf ihren Positionen beharren, spitzt sich der Konflikt langsam zu.
In allzu bekannten Bahnen bewegt sich zwar dieser Bruderkonflikt, aber andererseits gelingt es Segre gerade durch die Konzentration auf eine Familie treffend von generellen Problemen Venedigs zu erzählen. Seit Jahrzehnten stark rückgängig ist nämlich die Einwohnerzahl des historischen Zentrums der Lagunenstadt, da viele Bewohner:innen durch lukrative Kurzmietangebote für Tourist:innen vom Wohnungsmarkt verdrängt werden. Erstmals unter 50.000 ist so 2022 die Einwohnerzahl gesunken.
Wie viele aus dem Zentrum wegziehen, so soll im Film auch Piero von dem direkt an einem der Kanäle auf der Insel Giudecca liegenden Haus in eine der umliegenden Siedlungen auf dem Festland umziehen. Damit verbunden wäre aber auch die Aufgabe des Berufs als Krabbenfischer und so erzählt Segre auch, wie der expandierende Tourismus und die Verlockung des großen Geldes zum Verschwinden traditioneller Strukturen und Berufe führt.
Die Touristenströme sieht man in "Welcome Venice" freilich nicht, denn gedreht wurde der Film gegen Ende der Corona-Pandemie, als die Besucher:innen erst langsam wieder zurückzukehren begannen. Für Segre bot das die Gelegenheit in dem langsam und ruhig dahingleitenden Film in eindrücklichen Bildern auch immer wieder den Charme der Lagunenstadt mit ihren Kanälen und den direkt am Wasser liegenden Häusern zu feiern.
Klar bezieht er dabei im Konflikt der beiden Brüder Position und zeigt, welche Folgen die touristische Nutzung alter Gebäude hat, wenn an die Stelle des warmen und heimeligen Ambientes des mit alten Möbeln ausgestatteten Hauses der Familie schließlich ein ebenso modernes wie steriles Appartement tritt.
Welcome Venice Italien 2022 Regie: Andrea Segre mit: Paolo Pierobon, Andrea Pennacchi, Ottavia Piccolo, Anna Bellato, Guiliana Musso, Sara Lazzaro, Roberto Citran Länge: 103 min.
Ab 21.6. in den österreichischen Kinos
Filmforum Bregenz im Metrokino Bregenz: Do 25.7., 20 Uhr
TaSKino Feldkirch im Kino GUK: 22.8 bis 24.8.
Trailer zu "Welcome Venice"
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