top of page

Filmbuch: Aufbruch und Gewalt – Klassiker im Kino der Romania der 1960er- und 1970er Jahre

  • Autorenbild: Walter Gasperi
    Walter Gasperi
  • vor 7 Tagen
  • 4 Min. Lesezeit
"Aufbruch und Gewalt": Spannender Blick auf den filmischen und gesellschaftlichen Aufbruch der 1960er und 1970er Jahre
"Aufbruch und Gewalt": Spannender Blick auf den filmischen und gesellschaftlichen Aufbruch der 1960er und 1970er Jahre

Der im Schüren Verlag erschienene Sammelband arbeitet in detailreichen Analysen von 16 Filmen des italienischen, französischen, spanischen und lateinamerikanischen Kinos der 1960er und frühen 1970er Jahre den filmischen und gesellschaftlichen Aufbruch dieser Zeit heraus.


Die 1960er Jahre brachten nicht nur gesellschaftlich einen großen Umbruch, sondern markierten mit der Nouvelle Vague in Frankreich und zahlreichen darauf folgenden Erneuerungsbewegungen wie dem Neuen Deutschen Film, der Tschechoslowakischen Neuen Welle oder dem Cinema Novo in Lateinamerika auch einen filmischen Aufbruch zu einem Kino, das nicht mehr auf Illusion, sondern gerade auf deren Bruch setzte und statt Unterhaltung die Thematisierung gesellschaftlicher Probleme in den Vordergrund stellte.


Eingeleitet wird der im Schüren Verlag erschienene Sammelband, der auf eine Ringvorlesung an der Universität Innsbruck im Wintersemester 2022/23 zurückgeht, mit einem Beitrag, in dem die Herausgeber:innen Natasha Bianco, Antonio Salmeri und Sabine Schrader prägnant zentrale Merkmale dieser Auf- und Umbruchszeit vermitteln. Anschließend werden, unterteilt in die drei thematischen Blöcke "(Neo)Kapitalismus, Gewalt und Spektakel", "(Geschlechter)Revolten" und "(De)Kolonialisierung im Film" 16 Filme ausführlich analysiert.


Im Abschnitt "(Neo)Kapitalismus, Gewalt und Spektakel" arbeitet so Nora Zapf nicht nur detailliert die dokumentarischen Elemente und die Gewaltspiralen in Luis Bunuels "Los Olvidados" ("Die Vergessenen", 1950) heraus, sondern zeigt auch auf, wie dieser Film die vergessenen und chancenlosen Jugendlichen der Slums von Mexico-City sichtbar macht.


Natasha Bianco und Sabine Schrader widmen sich dagegen der Kapitalismuskritik und dem Spiel mit dem männlichen Blick in Pier Paolo Pasolinis "Teorema" (1968), während Gerhild Fuchs auf die Themen Gewalt und Übergriffigkeit der Boulevardpresse in Fellinis "La dolce Vita" (1960) blickt.


Julia Dettke revidiert in ihrem Beitrag das Bild des beinahe vergessenen Elio Petri und arbeitet durch detaillierte Analyse heraus, dass sowohl der Thriller "Indagine su un cittadino al il sopra di ogni sospetto" ("Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger", 1969/70) als auch der dystopische Science-Fiction-Film "La decima vittima" ("Das zehnte Opfer", 1965) Reflexionen über das Medium Film als Kunst des Spektakels, des Konsums und der Überwachung sind.


Den Abschluss dieses Abschnitts bildet Claudia Jünkes Analyse von Victor Erices "El espíritu de la colmena" ("Der Geist des Bienenstocks", 1973), der einerseits die Auswirkungen des Spanischen Bürgerkriegs im Porträt einer Familie spiegelt, andererseits aber auch von einem Coming-of-Age und einer Identitätsfindung der jungen Ana durch Gewalterfahrungen erzählt.


Im Abschnitt "(Geschlechter)Revolten" arbeitet Gesine Hindemith heraus, wie Jean-Luc Godard in "La chinoise" (1967) durch eine antimimetische und antirealistische Ästhetik der Distanznahme neue Verbindungen zwischen Wörtern und Bildern herstellt mit dem Ziel psychische und politische Verhaltensweisen zu decodieren.


Cora Rok blickt dagegen zunächst auf das Schaffen von Michelangelo Antonioni und sein Kino der Moderne im Allgemeinen, um dann dessen in den USA entstandenen Film "Zabriskie Point" (1970) auf der Basis von Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Theorie vom gekerbten und glatten Raum zu lesen. In detailreicher Analyse arbeitet die Autorin dabei nicht nur den Gegensatz zwischen dem gekerbten Körper der Stadt und der glatten Wüste heraus, sondern auch die Gegensätze zwischen den beiden Protagonist:innen mit Mark als Kriegsmaschine, die gegen Hierarchien und Machtstrukturen aufbegehrt und eine neue Identität findet und Daria als der toleranten Nomadin.


Uta Felten wiederum widmet sich Catherine Breillats "Une vraie jeune fille" ("Ein Mädchen", 1976) und Jean Eustaches "La maman et la putain" ("Die Mama und die Hure", 1976), die durch die direkte Thematisierung von Sexualität und die Präsentation von Dreiecks- und Vierecksbeziehungen statt klassischen Zweierbeziehungen bei ihrer Erstaufführung für Skandale sorgten bzw. im Fall von "Une vraie jeune fille" bis 1999 verboten war.


Uta Fenske zeigt dagegen auf, wie es Agnès Varda in "L´une chante, l´autre pas" ("Die eine singt, die andere nicht", 1977) gelingt von Abtreibung und Befreiung der Frau aus der Abhängigkeit vom Mann in Form eines Musicals zu erzählen, gleichzeitig aber durch dokumentarische Einschübe den Ernst der Themen nie aus den Augen zu verlieren und in der Geschichte zweier gegensätzlicher Frauen stellvertretend von der Geschichte der französischen Frauen insgesamt zu erzählen.


Ins Francos Spanien entführt schließlich Birgit Mertz-Baumgartners Beitrag zu Carlos Sauras "Ana y los lobos" ("Anna und die Wölfe", 1975). Die Autorin vermittelt dabei eindrücklich, dass die drei zentralen Männer des Films nicht so sehr für die Säulen Militär, Familie und Kirche stehen, sondern vielmehr instrumentalisierte Objekte eines repressiven Systems und Sinnbild für dessen Zerbröckeln sind.


Der dritte und letzte Abschnitt widmet sich der "(De)Kolonialisierung im Film". Christopher F. Laferl blickt hier ausgehend von der Biographie des Brasilianers Glauber Rocha und seinen theoretischen Schriften auf dessen für vielfältige Interpretationen offenen Spielfilm "Deus e o Diabo na Terra do Sol" ("Gott und der Teufel im Land der Sonne", 1964). Christian von Tschilschke analysiert dagegen den monumentalen agitatorischen Dokumentarfilm "La hora de los hornos" ("Die Stunde der Hochöfen", 1968) der Argentinier Fernando E. Solanas und Octavio Getino, in dem mit den Montagetechniken des sowjetischen Revolutionskino das Publikum aufgerüttelt und von einer passiv zuschauenden Masse zum Akteur umgewandelt werden soll.


Kathrin Ackermann untersucht in ihrem Beitrag, inwieweit sich in Pierre Schoendorffers Indochina-Film "La 317e Section" ("Die 317. Sektion", 1964) formale Elemente der Nouvelle Vague finden und ob es sich bei diesem Film um einen Kriegs- oder Antikriegsfilm handelt.


Einblick in den filmischen Umgang Italiens mit dem Kolonialismus bietet abschließend Alessandro Bosco, der zeigt wie Ettore Scola in "Riusciranno i nostri eroi a ritrovare l’amico misteriosamente scomparso in Africa?" (1968) im Genre einer Commedia all´italiana mit rassistischen und kolonialistischen Denkweisen spielt, sich allerdings auch den Vorwurf gefallen lassen muss, aus der eurozentrischen und exotisierenden Perspektive, die angeprangert wird, zu erzählen.


Nicht allzu viele, aber qualitativ hochwertige Bilder lockern die fundierten und tiefschürfenden Beiträge auf, die nicht nur einladen einen neuen Blick auf die vorgestellten Filme zu werfen, sondern auch Lust machen, diese Filme auf Basis der neuen Einsichten nochmals oder auch erstmals zu sehen.


 

 

 

Comments


bottom of page