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  • AutorenbildWalter Gasperi

All of Us Strangers

Ein einsamer schwuler Mann, der in einem fast leerstehenden Londoner Hochhaus lebt, beginnt eine Beziehung mit einem der wenigen anderen Bewohner:innen, wird aber gleichzeitig von Erinnerungen an seine früh verstorbenen Eltern eingeholt: Zwischen Traum und Realität pendelnd lotet Andrew Haigh in betörenden Bildern intensiv Einsamkeit, Sehnsucht nach Liebe, Trauer und Ängste aus.


Mit seinem zweiten Spielfilm "Weekend" hat Andrew Haigh 2011 einen meisterlichen Film über eine schwule Beziehung geschaffen, mit "45 Years" vier Jahre später ein großartiges Drama über eine langjährige Ehe, die durch die Erinnerung an eine Jugendliebe schwer erschüttert wird, und mit "Lene on Pete" 20217 ein bewegendes Drama über einen vernachlässigten, einsamen Teenager.


Das intensive Ausloten intimer Beziehungen und Gefühlswelten bestimmt das Werk des 1973 geborenen Briten. Dies kennzeichnet auch "All of Us Strangers", der lose auf dem 1987 erschienenem Roman "Sommer mit Fremden" des Japaners Taichi Yamada beruht, aber beispielsweise aus der heterosexuellen eine homosexuelle Beziehung macht.


Im Grunde kommt Haigh mit vier Figuren und einer Wohnung sowie einem Haus in der Vorstadt als Schauplätze aus. Keine große Bauten und keine Special-Effects sind nötig, doch viel reicher und bewegender als die meisten Großproduktionen ist dieses Drama, weil die Gefühle immer echt wirken und den Zuschauer:innen dadurch nahe gehen.


Unauffällig mag hier auch auf den ersten Blick die Farb- und Lichtdramaturgie sein, aber wie Kameramann Jamie D. Ramsay in der Hochhausfront eine einzelne Wohnung von Licht erhellt, wie er einen blauen Pullover von Adam (Andrew Scott) auf der Leinwand leuchten lässt oder wie er in einer Szene einen Club in violettes und blaues Licht taucht, lädt die Bilder mit Atmosphäre und Emotionen auf, die dieses Liebesdrama zu einem intensiven sinnlichen Erlebnis machen.


Im Zentrum steht der Drehbuchautor Adam. Er ist nicht nur der beinahe einzige Bewohner eines Londoner Hochhauses, sondern steckt auch in einer Schaffenskrise und kommt mit seinem neuen Drehbuch nicht weiter. Bei einem fälschlich ausgelösten Feueralarm lernt er Harry (Paul Mescal) kennen, der nicht weniger einsam als er selbst ist, aber offensiv auf ihn zugeht. Zurückhaltend reagiert Adam zunächst auf dessen Drängen, doch langsam entwickelt sich eine Beziehung.


Gleichzeitig fährt Adam wohl eher im Traum als in der Realität oder auch in der gedanklichen Arbeit an seinem Drehbuch immer wieder mit dem Zug in die Vorstadt zum Haus seiner Eltern, die verstorben sind als er selbst erst Zwölf war. Die Fahrt korrespondiert dabei mit einer Zeitreise, denn wenn er bei seinen Eltern ankommt, sind diese nicht älter als er selbst oder eben in dem Alter, in dem sie kurz vor ihrem Tod bei einem Autounfall vor 30 Jahren waren.


Worüber sie aufgrund ihres frühen Todes nie sprechen konnten von seiner Homosexualität über nie realisierte Ausflüge bis zu Mobbing in der Schule und mangelnde Fürsorge können sie jetzt in diesen imaginierten Szenen als in etwa Gleichaltrige auf Augenhöhe reden. Intensiv werden hier nicht nur Bedauern über mangelndes Einfühlungsvermögen, Trauer über den Verlust und Unwiederholbarkeit des Verlorenen spürbar, sondern auch ein gesellschaftlicher Wandel wird sichtbar, wenn die Mutter sich Sorgen macht, dass Adam wegen seiner Homosexualität auch als Erwachsener noch gemobbt und ausgegrenzt wird, er ihr aber erklären kann, dass sich die Zeiten geändert haben.


Zunehmend verschwimmen dabei nicht nur die Grenzen zwischen den Begegnungen mit den Eltern und der Beziehung zu Harry, sondern auch die Grenzen von Realität und Traum. Möglich scheint so, dass auch die Beziehung zu Harry mehr Wunschtraum als Realität ist.


Wichtiger als die äußere Handlung ist Haigh aber die Echtheit und Tiefe der Gefühle. Dafür sorgen neben seinem Feingefühl und Einfühlungsvermögen vier phänomenale Schauspieler:innen. Andrew Scott vermittelt die Zurückhaltung, die Verlorenheit und die Trauer Adams ebenso bewegend wie Paul Mescal die Extrovertiertheit und die Maskulinität Harrys, hinter der dann aber auch Trauer darüber sichtbar wird, dass er sich in seiner Familie aufgrund seiner sexuellen Orientierung an den Rand gedrängt fühlt. Großartig sind aber auch Jamie Bell und Claire Foy als fürsorgliche Eltern, die ihr Bedauern über Fehler und verpasste Chancen eindringlich vermitteln.


Aber auch mittels einer sphärischen Musik und Pop-Klassikern der 1980er Jahre, die direkt mit den Emotionen korrespondieren, verdichtet Haigh meisterhaft diesen Gefühlsteppich. Da beschwört der Pet Shop Boys-Hit "Always on My Mind" die lebenslange Fürsorge der Eltern für Adam, gleichzeitig fordern sie ihn schließlich aber auch auf loszulassen und sein eigenes Leben zu leben und das Glück in der Beziehung zu Harry zu suchen.


Wie intensiv dieses Glück wiederum sein kann, vermitteln am Ende schließlich akustisch Frankie Goes to Hollywood mit "The Power of Love" und auf visueller Ebene ein grandioses Schlussbild, in dem mit Kamerarückwärtsfahrt einzig das auf dem Bett liegende Paar in weiter Dunkelheit von Licht erhellt ist: So ein zwar einfaches, aber in seiner Einprägsamkeit grandioses Bild für die Kraft und Bedeutung der Liebe als gegenseitiger Halt und Stütze angesichts der Einsamkeit in einer dunklen Welt hat man noch selten im Kino gesehen.

 

 

All of Us Strangers Großbritannien / USA 2023 Regie: Andrew Haigh mit: Paul Mescal, Andrew Scott, Claire Foy, Jamie Bell Länge: 105 min.


Läuft derzeit in den Kinos, z.B. im Cinema Dornbirn, Cineplexx Hohenems und in O.m.U. im Skino Schaan.


Trailer zu "All of Us Strangers"



 

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