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  • AutorenbildWalter Gasperi

Alcarràs – Die letzte Ernte


In leuchtenden Bildern erzählt Carla Simón in ihrem bei der heurigen Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten zweiten Spielfilm vom letzten Sommer einer Bauernfamilie, deren Pfirsichplantage Solarpaneelen weichen soll: Bruchlos fließen Familienporträt und Gesellschaftskritik in dem von einem genauen Blick und herausragenden Laienschauspieler*innen getragenen Ensemblefilm zusammen.


Hautnah ist man schon in der ersten Szene an der kleinen Iris (Ainet Jounou), wenn sie in einem Autowrack mit ihren beiden Cousins spielt. Unbeschwert ist die Stimmung, doch wenig später beseitigt ein Kran das Wrack. – Ende und Umbruch, der sich in der nächsten Szene konkretisiert, künden sich damit schon an. Denn die Familie sieht sich mit einem Brief konfrontiert, in dem der Grundbesitzer ihnen mitteilt, dass nach dem Sommer die Pfirsichplantage Solarpaneelen weichen soll. Fieberhaft sucht man einen Vertrag, der bestätigt, dass das Land ihnen gehört, doch vor Jahrzehnten hat der Eigentümer dem Urgroßvater den Besitz nur per Handschlag übertragen.


Der Großvater (Josep Abad) versinkt zunehmend in stiller Trauer über den Verlust des Landes, auf dem er groß und alt geworden ist. Vater Quimet (Jordi Pujol Dolcet) versucht mit allem Einsatz die Ernte nochmals abzuwickeln, doch Rückenprobleme machen ihm ebenso zu schaffen wie ihn das bevorstehende Ende seines Werks zunehmend psychisch belastet. Wenig Freude hat er auch damit, dass ihn sein fast erwachsener Sohn Roger (Albert Bosch) bei der Arbeit zu unterstützen versucht, denn lieber wäre ihm, wenn er für die Schule lernt.


Mehr für die Vorbereitung einer Tanzvorführung bei einem Dorffest interessiert sich dagegen die etwa 15-jährige Tochter Mariona (Xènia Roset), während die Mutter (Anna Otin) als ruhendes und ausgleichendes Zentrum die Familie zusammenzuhalten versucht. Und dann gibt es auch noch Tante und Onkel, die in Barcelona leben, aber immer wieder vorbeischauen. Zum Konflikt kommt es dabei, als diese eine andere Position zur Errichtung der Photovoltaikanlage einnehmen.


Ein Wunder an Ausgewogenheit ist "Alcarrràs" im Blick auf diese Familie. Keinen Protagonisten gibt es hier, sondern die drei Generationen werden gleichwertig behandelt. Mit beweglicher Handkamera ist der Film immer nah dran an den einzelnen Familienmitgliedern, wechselt fließend zwischen ihnen und lässt die Zuschauer*innen an deren Leben unmittelbar teilhaben.


Getragen von einem großartigen Ensemble an Laienschauspieler*innen gelingt Carla Simón so ein dichtes und feinfühliges Familienporträt. Bewegend macht sie die unterschiedlichen Belastungen und Sorgen spürbar und arbeitet differenziert und feinfühlig heraus, wie die Anspannung langsam zu familiären Spannungen und Rissen führt. – Nur die Kinder tollen unbeschwert herum, sorgen für Witz, wenn sie den Vater wieder einmal nerven.


Man spürt im genauen Blick der 36-jährigen Katalanin, dass sie genau weiß, wovon sie erzählt: Wie schon ihr starkes Debüt "Fridas Sommer – Summer 1993" ist auch ihr zweiter Spielfilm von persönlichen Erfahrungen inspiriert, denn im südkatalonischen Dorf Alcarràs baute einst ihr Großvater Pfirsiche an und nun haben ihre Onkel und Tanten das Anwesen übernommen.


Nichts Dramatisches passiert, sondern ganz auf den Alltag und die Dynamik innerhalb der Familie konzentriert sich Simón. Sie beschönigt die Härte der Landarbeit, die ausführlich geschildert wird, nicht, vermittelt aber auch deren Befriedigung, die Freude über eine reiche Pfirsichernte, die Gemeinschaft bei einem Familienessen oder bei einem Dorffest.


Intensiv wird mit lichtdurchfluteten Sommerbildern die Handlung in diese Plantage mit ihren leuchtend grünen Pfirsichbäumen und einem rotbraunen Sandsteinberg im Hintergrund eingebettet. Doch immer wird auch die Bedrohung spürbar, wenn im Umland schon Solarpaneele aufgestellt werden.


Dass das Alte dabei nicht einem Golfplatz oder einer Hotelanlage, sondern einer als zukunftsweisend geltenden Photovoltaikanlage weichen muss, verleiht "Alcarràs" einen besonderen Dreh. Auch als Zuschauer*in könnte man Verständnis für diese Entscheidung entwickeln, würde der Grundherr nicht aus rein wirtschaftlichen Motiven handeln.


Zunehmend massiver schleicht sich so auch Gesellschaftskritik in den Film. Wird zunächst die unsichere Lage der Bauern durch fehlende schriftliche Verträge und Abhängigkeit von Großgrundbesitzern nur beiläufig angeschnitten, so kommt es gegen Ende zu Demonstrationen gegen die niedrigen Preise landwirtschaftlicher Produkte, die das Überleben der Kleinbauern massiv gefährden.


Bruchlos fließt so in dieses auch durch seine ruhige, aber bestechend kontrollierte Erzählweise beeindruckende Drama das Politische in das Private ein. Bei aller Empathie für diese Familie ist Simón aber keine Träumerin. Eindrücklich und nachwirkend macht das Schlussbild den Verlust deutlich, den der "Fortschritt" bedeutet, dennoch verbreitet "Alcarràs" die Hoffnung, dass diese Familie die Stärke hat, dass sie sich davon nicht unterkriegen lässt, sondern einen neuen Weg finden wird.



Alcarràs – Die letzte Ernte Spanien 2022 Regie: Carla Simón mit: Jordi Pujol Dolcet, Anna Otin, Berta Pipó, Xènia Roset, Albert Bosch, Ainet Jounou, Josep Abad Länge: 120 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan

Filmkulturclub Dornbirn im Cinema Dornbirn: Mi 16.11., 18 Uhr + Do 17.11., 19.30 Uhr



Trailer zu "Alcarràs - Die letzte Ernte"



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