Nuri Bilge Ceylan entführt in die Weite des winterlichen Anatoliens, in der ein Lehrer nach dem Studium seinen Pflichtdienst absolviert. In getragenem Rhythmus und bestechender Bildsprache durchleuchtet der türkische Meisterregisseur in langen, aber messerscharfen Dialogen die Charaktere der Protagonist:innen und ihre Widersprüchlichkeiten.
Unter drei Stunden geht es bei Nuri Bilge Ceylan seit seinem 2014 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten "Winterschlaf" nicht mehr. Auch in "About Dry Grasses" lässt er sich episch breite 197 Minuten Zeit, ohne dass äußerlich allzu viel erzählt würde.
Schon die erste Einstellung, in der in der Ferne ein Kleinbus stoppt und einen Mann aussteigen lässt, der langsam auf einer Seitenstraße über die verschneite Ebene bei Schneesturm auf die Kamera zugeht, stimmt auf den Erzählrhythmus ein.
Nach den Semesterferien, kehrt der Lehrer Samet (Deniz Celiloğlu) in das abgelegene ostanatolische Städtchen zurück. Hier erfüllt er nun schon das vierte und letzte Jahr des Pflichtdienstes, bei dem alle Lehramtsabsolvent:innen über das Land verteilt werden, ehe sie um Versetzung an eine andere Schule ansuchen können. So schnell wie möglich weg in Richtung Istanbul möchte Samet, während sein Kollege Kenan (Musab Ekici), mit dem er in einer Lehrerunterkunft lebt, sich an diese Region gewöhnt zu haben scheint.
An der Grundschule unterrichtet er Kunst, besonders zur Schülerin Sevim hat er ein gutes Verhältnis und macht ihr auch kleine Geschenke, bis er und Kenan vor die Bildungsbehörde zitiert und mit dem Vorwurf der Übergriffigkeit gegenüber Schülerinnen konfrontiert werden. Wie sich mit dem Schulleiter eine heftige Diskussion darüber entwickelt, wer sie hier angezeigt habe, so mit dem unterstellten Direktor, weil dieser sie nicht selbst über den Vorwurf befragt, sondern diesen gleich weitergeleitet hat.
Obwohl die Beschuldigung keine weiteren Folgen hat, sondern vertuscht wird, tritt Samet im Unterricht nun zunehmend aggressiv und zornig auf. Parallel dazu knüpft er aber auch Kontakt zu der in einer benachbarten Stadt unterrichtenden Nuray (Merve Dizdar), die bei einem Selbstmordattentat ein Bein verloren hat.
Wenig Interesse scheint Samet zunächst an dieser einst politischen aktiven Frau zu haben, doch als er sie Kenan vorstellt und sich eine Beziehung zwischen ihnen zu entwickeln scheint, reagiert er eifersüchtig und zunehmend intrigant. Als dritter Erzählstrang kommen noch die Besuche Samets bei einem Tierarzt dazu, bei dem er sich öfters abends mit einem jungen Kurden trifft, dessen Vater seit seiner Verhaftung spurlos verschwunden ist und der selbst von der Polizei bespitzelt wird.
Wie mit diesem Kurden so fließt auch mit nächtlichen Schüssen, mit denen wohl der bewaffnete Konflikt mit den Kurden angedeutet wird, oder dem Selbstmordattentat die politische Realität ein, im Zentrum steht aber die Durchleuchtung der Charaktere und ihrer Widersprüchlichkeit. Schwarz und weiß gibt es hier nicht, sondern vor allem Samet offenbart auch dunkle Seiten, während Nuray, für deren Verkörperung Merve Dizdar bei den Filmfestspielen in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde, als kluge und positive Frau gezeichnet wird.
Als Grundlage für seinen Film dienten Ceylan, der selbst eineinhalb Jahre in Anatolien in der Armee diente, die Tagebücher seines Co-Autors Akin Akus, der seine Eindrücke während der Arbeit an einer Schule in Anatolien festgehalten hat. Gemeinsam und wie gewohnt mit Ceylans Frau Ebru entwickelten sie daraus das Drehbuch, das von langen, messerscharfen Dialogen bestimmt ist.
In meisterhaftem Rhythmus wechselt Ceylan so zwischen großartigen Totalen der winterlich-verschneiten, weiten Landschaft, in der sich die Menschen verlieren, und in warme Brauntöne getauchten Innenszenen. In diesen Innenszenen inszeniert er die intensiven Diskussionen meist in langen und ruhigen Halbtotalen, die den Charakteren ebenso wie dem Publikum viel Raum und Zeit schenken. Großaufnahmen werden nur ganz selten eingesetzt und schneller wird der Schnittrhythmus, für den Ceylan selbst zusammen mit Oguz Atabas verantwortlich zeichnet, immer dann, wenn die Diskussionen emotionaler und hitziger werden.
So bestimmt auch die Schuss-Gegenschuss-Methode ein zentrales Gespräch zwischen Samet und Nuray, in dem die unterschiedlichen Positionen hinsichtlich gesellschaftlichen Handelns zum Ausdruck kommen. Während nämlich Samet seine Freiheit über alles stellt und sich dabei in Apathie zurückzieht, tritt Nuray für einen Einsatz für die Gemeinschaft ein.
Wenn Samet bei diesem Besuch bei Nuray ihre selbst gemalten Bilder betrachtet, ist dies – abgesehen vom Ende - auch der einzige Moment, in dem Musik einsetzt. Und bei dieser Begegnung durchbricht der Film auch dezidiert die vierte Wand, wenn Samet aus der Wohnung durch eine Tür ganz offensichtlich auf das Filmset tritt und vorbei an Mitarbeiter:innen des Films durch eine große Halle zu einer Badezimmerkulisse geht, wo er eine Tablette – Viagra? – schluckt, ehe er in den Film und zu Nuray zurückkehrt.
Ceylan hat aber auch zuvor zweimal Pausen in der Erzählung gesetzt, indem er Abfolgen von ausdrucksstarken Porträtaufnahmen, die Samet von Menschen der Region oder auch von sich selbst und Kenan machte, einschob. Gleichzeitig wird mit Samets Lust am Fotografieren auch ein Gegenpol zu Nurays Leidenschaft fürs Malen gesetzt. Steht seinem Einfangen der Wirklichkeit damit die Interpretation des Gesehenen durch Nuray gegenüber?
Nicht enden wollend scheint hier der Winter, bis "About Dry Grasses" nach rund 190 Minuten dann doch plötzlich in den Sommer springt, in dem das Gras ganz kurz grün ist, ehe es schon wieder verdorrt. Eine Metapher für die Hoffnungen der Jugend, die kurz aufflackern, sich dann aber doch nicht erfüllen, ist darin wohl zu sehen.
Wenn Samet hier erstmals im Voice-over über das Leben reflektiert, bricht seine Schwermut, seine Unzufriedenheit und Hoffnungslosigkeit vollends durch, doch im Kontrast zu diesem Pessimismus strahlt der Film durch seine Bildkraft und die meisterhafte Beherrschung des Erzählrhythmus.
Mühelos hält Ceylan den Spannungsbogen durch den Wechsel von Innen- und Außenszenen und unterschiedlichen Begegnungen über 197 Minuten aufrecht und fesselt in den ebenso intensiven wie langen Dialogszenen, in denen die Schauspieler:innen alles geben müssen und ihren Figuren großartig Profil verleihen.
About Dry Grasses - Kuru Otlar Üstüne Türkei / Frankreich / Deutschland / Schweden 2023 Regie: Nuri Bilge Ceylan mit: Deniz Celiloğlu, Merve Dizdar, Musab Ekici, Ece Bağı, Erdem Şenocak, Yüksel Aksu, Münir Can Cindoruk, Onur Berk Arsanoğlu Länge: 197 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.
Trailer zu "About Dry Grasses - Kuru Otlar Üstüne"
Comments