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  • AutorenbildWalter Gasperi

EO


In Jerzy Skolimowskis in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichneter Neuinterpretation von Robert Bressons "Au hasard Balthazar" erfährt ein Esel im heutigen Europa Leid und Glück: Ein eigenwilliger, fragmentarischer und sich teilweise an der Grenze zum Experimentalfilm bewegender Spielfilm.


1966 schilderte der Franzose Robert Bresson in "Au hasard Balthazar" in der für diesen Regisseur typischen asketischen Bildsprache die Leidensgeschichte eines Esels im ländlichen Frankreich. Tief beeindruckt war der Pole Jerzy Skolimowski von diesem Film, der der einzige gewesen sei, bei dem er je geweint habe.


56 Jahre später legt Skolimowski, der Anfang der 1960er Jahren in Polen seine Karriere begann, aber schon ab Ende des Jahrzehnts vorwiegend im Westen drehte, eine Neuinterpretation von Bressons Meisterwerk vor. Dass dieser Altmeister sich dabei filmsprachlich nicht am Vorbild orientieren wird, machen schon die ersten, ganz in Rot getauchten Bilder klar.


Durch die Nähe der Kamera ist zunächst unklar, was hier eigentlich passiert, bis sich herauskristallisiert, dass es sich um eine Zirkusszene handelt, bei der die Artistin Kassandra (Sandra Drzymalska) mit dem Esel ein Kunststück vorführt. Die in Rot getauchten Momente, die es auch später immer wieder im Film gibt, entpuppen sich rasch als Träume oder Gedanken des Esels.


So liebevoll dieser EO, dessen Name auf den Eselruf "Iah" verweist, aber von Kassandra behandelt wird, so brutal schlägt der Zirkusdirektor auf das Grautier ein, als dieses in der folgenden Szene nicht sofort einen Karren mit Alteisen ziehen will. Doch Kassandra greift ein und stoppt den gefühlskalten Schläger.


Doch nur kurz kann sie ihre schützende Hand über die gequälte Kreatur halten, denn als Tierschützer gegen die Haltung von Zirkustieren protestieren, müssen die Tiere verkauft werden. Immer wieder ist nun EO, der von sechs verschiedenen Eseln verkörpert wird, in einem Transporter unterwegs. Bald kommt er auf einen Pferdehof, von dem er abbaut, bald soll er nach Italien zu einem Schlachthof gebracht werden.


Immer wieder bricht er aber auch aus seinem Gefängnis aus. Er streift durch die Wälder, erfreut bei einem Fußballspiel die eine Mannschaft, während die Hooligans der anderen Mannschaft ihn fast zu Tode prügeln oder er wird auf einem LKW-Parkplatz Zeuge sowohl der bedrückenden Lage von Flüchtlingen als auch eines brutalen Mords.


Ähnlich wie Andrea Arnold in ihrem Dokumentarfilm "Cow" erzählt auch Skolimowski ganz aus der Perspektive seines Protagonisten. Menschen bleiben Nebenfiguren, der Dialog ist auf ein Minimum reduziert. Hautnah ist die Kamera von Michal Dymek dafür immer wieder an EO, fokussiert lange auf sein traurig blickendes Auge oder die aufstehenden Haare des grauen Fells.


Stringente Handlung stellt sich kaum ein, vielmehr ist EO ein Bindeglied der einzelnen Szenen, in denen bruchstückhaft auch ein Bild des heutigen Europas, der Gewalt gegenüber Tier und Natur, aber auch der Gleichgültigkeit und gesellschaftlicher Missstände gezeichnet wird. Denn da gibt es einen wiederum in Rot getauchten Traum oder eine Fantasie EOs, in der in alptraumhaften Bildern ein Eindruck von der Umweltzerstörung vermittelt wird, dann wieder realistische Momente, in der der LKW mit EO eine die Umwelt verschmutzende Fabrik passiert. Auch andere Tiere kommen ins Spiel, wenn EO auf einer Fuchsfarm landet oder ein Vogel tot zu Boden fällt, weil er gegen ein Windrad geflogen ist.


Gleichzeitig wird mit einer Fußballszene das Spannungsfeld zwischen ausgelassener Feier und in Aggression mündende Wut von Hooligans skizziert, während in der Szene auf dem LKW-Parkplatz Not der Flüchtlinge ebenso wie grassierende brutale menschliche Gewalt angeschnitten wird.


Man spürt das Engagement Skolimowskis für die geschundene Kreatur und die vom Menschen ausgebeutete Natur. Das dem Abspann vorangestellte Insert "Dieser Film wurde aus Liebe zur Natur und den Tieren gedreht. Das Wohlergehen der Tiere am Set hatte für uns immer oberste Priorität, bei den Dreharbeiten zu diesem Film kamen keine Tiere zu Schaden" wäre nicht nötig gewesen, denn dies wird im empathischen Blick auf die Schwachen spürbar.


So beeindruckend freilich einzelne Szenen und Bilder wie beispielsweise das EOs auf einer Brücke vor dem tosenden Abfluss eines Staudamms sind, so sehr widersetzt sich der Film als Ganzes in seiner fragmentarischen Erzählweise und in der konsequenten Perspektive des Esels auch einem bruchlosen Sehgenuss.


Besonders irritierend ist hier eine Episode in einer italienischen Villa. Hierher hat ein junger Priester, der offensichtlich der Sohn der von Isabelle Huppert gespielten Gräfin ist, EO gebracht. Weitgehend im Dunkeln bleibt dabei aber der angedeutete Mutter-Sohn-Konflikt und unklar bleibt auch die Funktion der Messe, die der Sohn hier zelebriert.


Auch der Wechsel zwischen realistischen Bildern und den Traumbildern, die "EO" einen stark experimentellen Anstrich verleihen, erschweren ein Eintauchen in diese Passionsgeschichte und reißen die Zuschauer:innen immer wieder aus ihr heraus. Gleichzeitig muss man aber auch den Mut Skolimowskis bewundern, der mit seinen 84 Jahren einen Film gedreht hat, der formal weit wagemutiger als die meisten Filme seiner jüngeren Kolleg:innen ist. - Es ist dieser Wagemut, der dafür sorgt, dass man diesen absolut ungewöhnlichen und mit nichts vergleichbaren Film nicht so schnell aus dem Kopf bekommen wird.



EO Polen / Italien 2022 Regie: Jerzy Skolimowski mit: Sandra Drzymalska, Tomasz Organek, Mateusz Kosciukiewicz, Lorenzo Zurzolo, Isabelle Huppert, Lolita Chammah, Agata Sasinowska Länge: 86 min.


Läuft in den österreichischen, deutschen und Schweizer Kinos, z. B. im Kinok St. Gallen


Trailer zu "EO"





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