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1976

Autorenbild: Walter GasperiWalter Gasperi

Eine gutbürgerliche Frau beginnt im Chile Pinochets verdeckt den Widerstand zu unterstützen. – Manuela Martelli evoziert in ihrem Spielfilmdebüt dicht die permanente Atmosphäre von Angst, Überwachung und Verunsicherung in Zeiten einer brutalen Militärdiktatur.


Mit Politik hat die etwa 50-jährige Arztgattin Carmen (Aline Kuppenheim) nichts am Hut. Im Farbengeschäft interessiert sie sich für das perfekte Rosa, mit dem sie die Ferienvilla am Meer bemalen lassen will. Doch auf der Tonspur wird der Einkauf durch Geräusche und Stimmen von draußen gestört. Bruchstückhaft bekommt man mit, dass eine Frau von der Polizei verhört und verhaftet wird.


Ganz nah ist die Kamera von Soledad "Yarara" Rodriguez zunächst an den Farbtöpfen und Carmen. Erst als die Polizeiaktion abgeschlossen ist, springt sie in eine Halbtotale und vermittelt einen Eindruck vom Farbengeschäft.


Die Trennung von Innen und Außen verweist auch schon auf die gesellschaftliche Spaltung Chiles unter Diktator Augusto Pinochet, der 1976 das Land schon drei Jahre mit eiserner Hand regiert und jede Opposition auslöschen will. Dem quasi abgeschotteten Leben im Farbengeschäft steht der Widerstand draußen gegenüber. Wie die Jalousie am Ende der Szene heruntergelassen wird, schließen die Menschen die Augen vor der politischen Verfolgung.


Carmen fährt zwar mit ihrem Wagen zur Strandvilla, wo sich die Angestellte Estea (Carmen Gloria Martínez) um den Haushalt kümmert, doch das Erlebte hat sie verunsichert und zum Nachdenken gebracht. Dazu kommt noch, dass bald darauf der örtliche Pfarrer (Hugo Medina) sie aufgrund ihrer medizinischen Kenntnisse bittet, sich um einen jungen Mann zu kümmern, der bei der Flucht vor der Polizei durch einen Schuss verletzt wurde und den er versteckt.


Indem Manuela Martelli konsequent aus der Perspektive der von Aline Küppenheim zurückhaltend, aber mit großer Präsenz und vielschichtig gespielten Carmen erzählt, bietet "1976" auf der einen Seite Einblick ins Leben des gehobenen Bürgertums. Dass in ihrer Familie politische Diskussionen nicht geduldet werden, wird klar, wenn Carmens Mann ein diesbezügliches Gespräch der erwachsenden Kinder sofort unterbindet. Beiläufig werden auch patriarchale Strukturen sichtbar, wenn Carmen erklärt, dass sie einst selbst gern Ärztin geworden wäre, ihr Vater aber kein Verständnis dafür hatte und zu einer Heirat drängte.


Auf der anderen Seite bekommt man mit Carmens Engagement für den jungen Mann Einblick in den Widerstand und das dabei herrschende Klima der Angst, Verunsicherung und Überwachung. Schwierig ist es dabei für Carmen schon Medikamente für den Verletzten aufzutreiben und sie muss sich dafür allerhand Lügen ausdenken.


Von der medizinischen Versorgung weiten sich ihre Aktivitäten bald, wenn sie andere Oppositionelle kontaktieren muss, um sie über den Zustand des Verletzten und die weitere mögliche Vorgangsweise zu informieren. Nur über geheime Parolen und Erkennungszeichen wie ein Brot oder eine Glühbirne gibt sie sich so aus Sicherheitsgründen zu erkennen, dennoch herrscht ständige Angst vor Entdeckung.


Die Spannung eines Hitchcock-Thrillers baut Martelli auf, wenn Carmen in eine Polizeikontrolle gerät, weil sie nach der Sperrstunde unterwegs ist, oder wenn ihr Wagen aufgebrochen und durchsucht wird. Große Verunsicherung löst auch eine Szene aus, in der Carmen lange von einem anderen Wagen verfolgt wird, und geschickt wird bei einem Telefonat in der Schwebe gelassen, ob die Störgeräusche aus einer Abhörung resultieren. Nie kommt hier der Gedanke an eine Paranoia auf, sondern die Gefahr fühlt sich permanent sehr real an.


Auch das perfekte Sounddesign und eine sorgfältige Ausstattung, die in die 1970er Jahre eintauchen lässt, verdichten diese Atmosphäre der permanenten Angst und Überwachung. Gleichzeitig erzeugt die Nähe der Kamera, die Carmen immer wieder in Großaufnahme erfasst, ein Gefühl der Enge und Ohnmacht.


Diesem beklemmenden Klima steht das Leben des Großbürgertums gegenüber, das hinter Pinochet steht. Von der öffentlichen Verteidigung der Verfolgung Oppositioneller durch eine Bekannte der Familie bis zur stillschweigenden Akzeptanz der Diktatur durch Ehemann und die beiden erwachsenen Kinder spannt sich hier der Bogen.


Nur Carmen pendelt zwischen den Welten. Sie wird schließlich – wie zuvor schon der Pfarrer – einerseits von heftigen Schuldgefühlen geplagt, andererseits die Geburtstagstorte für die große Feier zum 7. Geburtstag der Enkelin der Gastgesellschaft präsentieren. So spiegelt sich in dieser Protagonistin eine Zerrissenheit der chilenischen Gesellschaft, die vermutlich immer noch nicht überwunden ist.


1976 Chile 2022 Regie: Manuela Martelli mit: Aline Küppenheim, Nicolás Sepúlveda, Hugo Medina, Alejandro Goic, Carmen Gloria Martínez, Antonia Zegers Länge: 95 min.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.


Trailer zu "1976"


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