Peter Kerekes schildert anhand eines Einzelschicksals den Alltag im Frauengefängnis von Odessa, in dem auch Mütter mit ihren Neugeborenen inhaftiert sind: Ein bestechender Mix aus dokumentarischem Gestus und Inszenierung, der eindrücklich die Monotonie des Gefängnisalltags, aber auch die Mutterliebe vermittelt.
So direkt wie in "107 Mothers" hat man wohl noch selten in einem Film eine Geburt gesehen. Die junge Leysa (Marina Klimova) hat ihren ersten Sohn geboren, doch die Umstände sind alles andere als normal. Weil sie ihren Mann aus Eifersucht ermordet hat, wurde sie zu sieben Jahren Haft verurteilt. Ihr Sohn Kolya wird ihr unmittelbar nach der Geburt entzogen, denn sie muss für zwei Wochen in Quarantäne. Danach soll sie ihn täglich zwei Stunden sehen, doch am dritten Geburtstag soll er in ein Waisenhaus verlegt werden, sofern Leysa niemanden findet, der sich um ihn kümmert.
Dokumentarisch wirkt der Film von Peter Kerekes in den langen statischen, distanzierten und sorgfältig kadrierten Einstellungen, in denen er den Gefängnisalltag nicht nur schildert, sondern auch durch die strenge Form nach außen kehrt. Verwundern kann das nicht, hat der Slowake doch nicht nur in der realen Strafanstalt Nr. 74 in Odessa gedreht und sich von den realen Geschichten mehrerer Frauen inspirieren lassen, sondern er setzte auch bei der Besetzung auf reale Personen. So spielen mit Ausnahme der Protagonistin Leysa, die von der professionellen Schauspielerin Maryna Klimova verkörpert wird, sowohl die anderen Häftlinge als auch die Aufseherinnen wie Irina (Irina Kirjazewa) sich selbst.
Musik setzt Kerekes nur sehr reduziert ein, verzichtet auch weitgehend auf dramatische Zuspitzung, setzt stattdessen auf geduldige Beobachtung. Einblick in die Arbeitsstellen im Gefängnis in einer Schneiderei bietet er ebenso wie in Sprachunterricht, Gymnastik und Verleihung von Zeugnissen, das Spiel der Mütter mit ihren Kindern im Gefängnis-Kindergarten, einen Kinoabend oder eine Theatervorführung an Weihnachten.
Eingeschnitten in die Geschichte Leysas sind dabei immer wieder Befragungen anderer – realer – Insassinnen durch unsichtbar bleibende Aufseherinnen. Direkt in die Kamera werden die Antworten dabei gesprochen. So sehr diese Szenen den Eindruck von Authentizität steigern, so brechen und stören sie doch auch den Erzählfluss der fiktionalen Geschichte.
Als markanter Gegenpol zu Leysa wird die Aufseherin Irina aufgebaut. Gewisse Komik entwickelt der Film, wenn diese immer wieder von ihrer Mutter über ihr Privatleben befragt wird und aufgefordert wird einen Partner zu suchen. Wie die Mutter offensichtlich Irinas Briefe liest, zensuriert sie in ihrem Job die Briefe der Häftlinge, öffnet sie und streicht ihrer Ansicht nach inakzeptable Stellen oder hört bei Besuchen der Häftlinge per Telefon mit.
Mit einem Schnitt überspringt Kerekes annähernd drei Jahre und lässt so die Versetzung Kolyas ins Waisenhaus bedrohlich nahe rücken. An die Stelle der distanzierten Beobachtung, durch die eindringlich die Monotonie und Gleichförmigkeit des Gefängnisalltags erfahrbar wurde, tritt damit auch stärkere Dramatik. Verzweifelt versucht Leysa nämlich, nachdem ihr Ansuchen auf Entlassung auf Bewährung abgelehnt wurde, jemanden zu finden, der die Fürsorge Kolyas übernimmt, bis sie aus der Haft entlassen wird.
Recht früh kann man ahnen, wie diese Suche enden wird. Mit diesem Ende setzt Kerekes zwar explizit ein Zeichen der Menschlichkeit und Empathie, doch durchzogen von Menschlichkeit ist "107 Mothers" durchgängig. Sein Anliegen trägt dieser Film aber nicht vor sich her, sondern entwickelt Mitgefühl für Leysa und ihre Mithäftlinge allein durch die genaue Beobachtung.
Keine spektakulären Exzesse in der Haft sind dabei nötig, um das Beklemmende und Zermürbende des Gefängnisalltags erfahrbar zu machen, und intensiv wird durch die Trennung von Kindern und Mütter auch die Wichtigkeit dieser Beziehung für die kindliche Entwicklung vermittelt. – Nicht so schnell aus dem Kopf gehen wird einem so eine Szene, in der ein Kind heftig zu weinen beginnt, als eine Mitarbeiterin des Waisenhauses die Mutter hinausschickt, um allein mit dem Kind zu reden.
107 Mothers Ukraine 2021 Regie: Peter Kerekes mit: Iryna Kiryazeva, Maryna Klimova, Lyubov Vasylyna Länge: 107 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, ab 3.5. im Kinok St. Gallen
Trailer zu "107 Mothers"
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