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  • AutorenbildWalter Gasperi

Wir sind dann wohl die Angehörigen


Die Entführung des Hamburger Literatur- und Sozialwissenschaftlers Jan-Philipp Reemtsma war eines der aufsehenerregendsten Verbrechen im Deutschland der 1990er Jahre. – Bei Pandora Film ist das psychologische Drama, in dem Hans-Christian Schmid die zermürbenden Wochen aus der Perspektive der Gattin und des 13-jährigen Sohnes nachzeichnet, auf DVD und Blu-ray erschienen.


Mit dem Coming-of-Age-Film "Crazy" (2000) wurde Hans-Christian Schmid bekannt. 2006 gelang ihm mit "Requiem" abseits aller Hollywood-Konventionen ein fulminantes Drama über einen Exorzismus. Auch das Drama "Sturm" (2009) über Ermittlungen des internationalen Gerichtshofs zu Kriegsverbrechen in Bosnien und "Was bleibt" (2011), in dem Schmid von der Belastung einer Familie durch die Depression der Mutter erzählte, beeindruckten.


Danach wurde es aber um den 58-jährigen Deutschen still und es entstand nur noch die Mini-Serie "Das Verschwinden" (2017). Erst elf Jahre nach "Was bleibt" legte er 2022 mit der Verfilmung von Johann Scheerers 2018 erschienenen autobiographischen Schilderung der Entführung seines Vaters Jan-Philipp Reemtsma wieder einen Kinofilm vor. – Doch außerhalb von Deutschland schaffte dieses Drama bedauerlicherweise nie den Sprung auf die große Leinwand. - Wenigstens ist es jetzt als DVD und Blu-ray verfügbar.


Wie Schmids beste Filme entwickelt auch "Wir sind dann wohl die Angehörigen" vom ersten Moment an große Dichte und Spannung durch den genauen Blick und das Gespür für die Figuren und ihre Gefühle. Kurze Szenen des 13-jährigen Johann (Claude Heinrich) in der Schule und im Probenraum mit seiner Schülerband "Am kahlen Aste" sowie beim Lernen mit seinem Vater (Philipp Hauß) reichen Schmid aus, um Einblick in die Befindlichkeit des Teenagers und sein gespanntes Verhältnis zu seinem Vater zu vermitteln.


Doch verflogen sind diese Spannungen, als die Mutter (Adina Vetter) Johann am nächsten Morgen mit der Nachricht weckt, dass der Vater am letzten Abend entführt wurde. Auf Zeit- und Ortinserts kann Schmid getrost verzichten. Dass einmal Osternester gesucht werden, verankert den Film zwar im Frühjahr, doch es geht nicht um die dokumentarische Rekonstruktion der konkreten Ereignisse, die sich zwischen dem 25. März und dem 26. April 1996 abspielten, sondern um die Auswirkungen solcher Ausnahmesituationen auf die Angehörigen im Allgemeinen.


Bald stellen sich zwei Polizisten im Haus ein, die nicht nur Mutter und Sohn betreuen, sondern auch Telefonate und die Lösegeldübergabe überwachen sollen. Dazu kommen der befreundete Anwalt (Justus von Dohnány), der mit der Mutter das Lösegeld übergeben soll, und ein Freund der Familie (Hans Löw), der sich vor allem um Johann kümmern soll.


Die geforderten 20 Millionen D-Mark (10 Millionen Euro) sind bald bereitgestellt, doch die Lösegeldübergabe scheitert mehrmals. Agieren Mutter, Sohn und Anwalt zunächst ruhig, so nimmt der psychische Druck spürbar zu, wenn sich die Entführung schließlich über 33 Tage hinzieht. Man spürt die wachsende Belastung und jeder der Betroffenen erfährt einen Zusammenbruch, bis die Mutter versucht, die Lösegeldübergabe ohne Polizei durchzuführen.


Im Gegensatz zu klassischen Krimis bleiben die Ermittlungen der Polizei ebenso außen vor wie die Aktionen der Entführer und die Situation des Entführten. Auch Kritik an der dilettantischen Polizeiarbeit fließt nur beiläufig ein und wird nicht breit ausgewalzt. Schmid bleibt konsequent bei den Angehörigen, das Haus der Reemtsmas / Scheerers ist weitgehend der einzige Schauplatz.


Große Dichte entwickelt dieses psychologische Drama in der Konzentration auf den engen Raum. Genau kann hier Schmid, unterstützt von einem großartigen Ensemble, das Zermürbende des bangen Wartens und die Ohnmacht ausloten. Unspektakulär und nüchtern ist die Inszenierung, zurückgenommen ist auch der Musikeinsatz. Aber gerade in der ausführlichen Schilderung der Protagonist:innen und im Einfühlungsvermögen in ihre Situation entwickelt "Wir sind dann wohl die Angehörigen" seine Dichte.


Hier werden eben nicht Kinofiguren und eine Kinogeschichte präsentiert, sondern Stärke entwickelt dieses Drama durch seine Nähe zum Leben und zum Alltag. Wie Schmid, der wie schon bei seinem Kinodebüt "Nach fünf im Urwald" (1995), "23 – Nichts ist wie es scheint" (1998), "Crazy" (2000) und "Lichter" (2003) das Drehbuch zusammen mit Michael Gutmann schrieb, es versteht die Realität in eine Spielfilmhandlung zu gießen, das ist beeindruckend und sorgt dafür, dass dieses Kammerspiel durchgehend spannend bleibt, auch wenn der Ausgang bekannt ist.


An Sprachversionen bieten die bei Pandora Film erschienene DVD und Blu-ray die deutsche Originalfassung, zu der deutsche Untertitel zugeschaltet werden können, sowie deutsche Untertitel für Hörgeschädigte und eine Audiodeskription. Die Extras beschränken sich auf eine achtminütige Sammlung von nicht verwendeten Szenen sowie eine umfangreiche Trailershow zu weiteren Filmen des Labels.


Trailer zu "Wir sind dann wohl die Angehörigen"



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