Vermiglio
- Walter Gasperi
- 25. Juli
- 3 Min. Lesezeit

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verliebt sich eine junge Frau in einem Bergdorf im Trentino in einen sizilianischen Deserteur: Maura Delpero versetzt in ihrem zweiten Spielfilm in bedächtiger und elliptischer Erzählweise in großartigen Bildern intensiv in eine archaisch-patriarchale Welt, in der die Menschen in Konventionen eingesperrt sind.
Cesare Graziadei (Tommaso Ragno) ist zwar Lehrer des im Trentino gelegenen Bergdorfs Vermiglio, dennoch lebt seine Familie kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in ärmlichen und beengten Verhältnissen. Mehrere Kinder müssen in einem Bett schlafen und die Ehefrau gebärt ein Kind nach dem anderen.
Fern scheint der Krieg in Maura Delperos nach "Maternal" (2019) zweitem Spielfilm. Weder hört man Kriegslärm noch sieht man Soldaten, dennoch wirken sich die äußeren Ereignisse auch auf diese Abgeschiedenheit aus, als der einheimische Attilio mit dem Sizilianer Pietro (Giuseppe De Domenico) nach ihrer Desertion hier Zuflucht sucht. Spannungen bauen sich im Dorf auf, als der Lehrer Pietro in einer Scheune versteckt, denn ein Teil der Dorfbevölkerung steht dessen Fahnenflucht ablehnend gegenüber.
Luzia (Martina Scrinzi), die älteste Tochter des Lehrers, verliebt sich dagegen in Pietro. Werden zunächst Blicke und Botschaften per Zettel ausgetauscht, folgt bald die Heirat. Pietro bricht nach Kriegsende aber nochmals nach Sizilien auf, um seine Mutter zu besuchen, während die schwangere Luzia sehnsüchtig seine Rückkehr erwartet.
An Ermanno Olmis "Der Holzschuhbaum" (1978) oder "Padre Padrone" (1977) der Brüder Taviani erinnert Delperos bei den Filmfestspielen von Venedig 2024 mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichneter Film in der detailreichen und geduldigen Schilderung dieser archaischen bäuerlichen Welt. In langen, sorgfältig kadrierten und ausgeleuchteten Einstellungen fängt die Kamera von Michail Kritschman den Alltag vom Melken der Kühe bis zu religiösen Festlichkeiten ein, vermittelt aber auch den Wechsel der Jahreszeiten vom tiefverschneiten Winter bis zum lichtdurchfluteten Sommer.
Beeindruckend kehren die vorwiegend statischen Einstellungen und die kühlen Blautöne die gesellschaftliche Erstarrung und Beengung nach außen. Nur punktuell setzt Delpero, die sich von der Kindheit ihres Vaters zu "Vermiglio" inspirieren ließ, Musik ein. Sie emotionalisiert nicht, sondern erzählt distanziert und ruhig.
Spärlich bleibt der Film auch hinsichtlich Hintergrundinformationen, wenig geben die Figuren in ihrer Wortkargheit preis. Auch die elliptische Erzählweise korrespondiert intensiv mit der Verschlossenheit dieser Welt. Nichts wird breit ausformuliert, sondern aufs Äußerste verknappt ist die Erzählweise, bei der Leerstellen zwischen einzelnen Einstellungen immer wieder von den Zuschauer:innen selbst gefüllt werden müssen.
Weitgehend auf die Familie konzentriert sich Delpero und lotet intensiv die Beziehungen aus. Dem patriarchalen Vater, dessen ganzer Stolz ein Grammophon ist und der Geld für Schallplatten ausgibt, da Musik für ihn Nahrung für die Seele ist, steht die pragmatische Mutter gegenüber, die die Sorge um die Ernährung der Kinder belastet.
Erscheint die Familie zunächst als kompakte Gemeinschaft, so werden zunehmend unterschiedliche individuelle Sehnsüchte sichtbar. Vor allem die Beziehung zwischen dem Vater und seinem pubertierenden ältesten Sohn Dino ist konfliktbeladen. Während er diesen Jugendlichen für einen Taugenichts hält und ihm eine weitere Schulbildung verweigert, da diese für die Feldarbeit nicht nötig sei, soll die jüngste Tochter Flavia nach der Grundschule in Trient das Internat besuchen.
Die mittlere Tochter wiederum flüchtet vor der aufkeimenden Sexualität in die Religion, während Luzia sich durch die Liebe zu Pietro aus dem Familienverband befreit, dann aber an einer bitteren Erkenntnis zu zerbrechen droht.
Wie aus der Zeit gefallen wirkt "Vermiglio" in der zurückhaltenden Schilderung und im Verzicht auf alle inszenatorischen Spielereien. In seiner bedächtigen und undramatischen Erzählweise verlangt dieses Familiendrama Geduld, lässt aber andererseits durch seine große formale Geschlossenheit und die Konsequenz der Inszenierung für zwei Stunden in diese versunkene Welt eintauchen und entwickelt im Blick auf das Schicksal Luzias auch zunehmend emotionale Kraft.
Vermiglio Italien / Frankreich / Belgien 2024 Regie: Maura Delpero mit: Tommaso Ragno, Roberta Rovelli, Martina Scrinzi, Giuseppe De Domenico, Rachele Potrich Länge: 119 min.
Läuft jetzt in den Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Kino GUK in Feldkirch. FKC Dornbirn im Cinema Dornbirn: Mi 17.9., 18 Uhr + Do 18.9., 19.30 Uhr
Trailer zu "Vermiglio"