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AutorenbildWalter Gasperi

Streaming: Höhere Gewalt - Turist


Das Verhalten des Vaters bei einem Lawinenabgang, der sich bald als harmlos herausstellt, erschüttert das Beziehungsgefüge einer Familie zutiefst. - Ruben Östlunds messerscharfe Satire über Geschlechterrollen, Verhaltensmuster und Selbstinszenierung kann bei filmingo und cinefile gestreamt werden, läuft am 19./20.12. um 00.00 Uhr aber auch auf 3sat.


Eine schwedische Familie auf Skiurlaub in den französischen Alpen. Von einem Fotografen werden Fotos geschossen und Tomas, seine Frau Ebba, die etwa elfjährige Vera und der achtjährige Harry posieren brav im Schnee, stellen sich wie gewünscht auf, neigen die Köpfe einander zu. – Das Thema gibt Ruben Östlund mit dieser Auftaktszene vor und wirft schon die Frage auf, wie diese pure Inszenierung mit der Realität zusammenhängt, was sich hinter dem Spiel verbirgt.


Denn wie wenig es braucht, dass die wahren Instinkte hervorbrechen, wird man bald sehen – und auch, wie dieses Verhalten, das dann eben so überhaupt nicht mit einstudierten männlichen Rollenbildern übereinstimmt, das Zusammenleben der Familie erschüttert.


Auf das Fotoshooting folgen zunächst Totalen von der majestätischen, verschneiten Hochgebirgslandschaft, von Kanonen zum Abschießen von Lawinen, begleitet und kontrastiert von Ausschnitten aus Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ – bezeichnenderweise aus dem Akt „Sommer“ statt „Winter“. Surreal wirkt dieser Kontrast von Naturlandschaft und technischer Verbauung, die noch stärker im Retortenkomplex des Hotels im Hochgebirge zum Ausdruck kommt. In diesem Gegensatz von Natur und menschlichem Bau spiegelt sich freilich auch der Kontrast von antrainierten Verhaltensweisen und innerer Natur des Menschen.


Streng und kühl ist Östlunds Film, zu dem ihn Untersuchungen über Schiffskatastrophen von der Titanic bis zur Estonia angeregt haben. Immer wieder habe sich dabei gezeigt, dass Männer deutlich höhere Überlebenschancen haben, während Frauen und Kinder überprozentuell zahlreich ertrinken. In langen statischen Einstellungen zeigt er die Familie bei den Fahrten mit Skilift, gleitend folgt die Kamera dagegen im Rücken bei der Fahrt die weißen Hänge hinunter, schwingt fast mit den Skifahrern mit.


Strenge und Kälte strahlt "Höhere Gewalt" auch aus durch die Gliederung in mit Inserts zu den Skitagen überschriebenen Kapiteln, in der Beschränkung auf die Skiregion, in der Aussparung jeder Vor- und Hintergrundgeschichte zur Familie und in der Konzentration auf wenige Personen.


Satirisch überzogen wird die Realität dabei immer wieder, wenn beispielsweise die gesamte Familie in blauer Skiunterwäsche schlafend im Hotelzimmer im Bett liegt oder wenn alle im Bad mit elektrischer Zahnbürste vor dem Spiegel stehen. Das scheinbare Idyll, die heile Welt wirkt schon in diesen ersten Szenen durch die Art der Inszenierung künstlich, lässt Beunruhigendes erahnen.


Das kündigt sich auch im Kanonendonner der Lawinenabschüsse an, im Irrealen der Schneekanonen oder des nachts über die Piste rauschenden Balletts der Pistenraupen. Doch noch genießt man das gute Essen auf der Terrasse des Bergrestaurants, als mit einem Knall wieder eine Lawine abgeht – kontrolliert freilich und die Touristen machen noch Fotos, bis die Lawine immer größer wird und der Terrasse immer näher kommt. Panik bricht aus und Hals über Kopf fliehen die Gäste - auch Tomas, der freilich noch seine Skihandschuhe und sein iPhone ergreift, aber seine um Hilfe rufende Frau, die sich um die Kinder kümmert, im Stich lässt.


Weiß wird die Leinwand vom Schneegestöber, doch langsam löst sich dieses wieder auf. Nur Wind und Geriesel drang bis zur Terrasse vor, und wie die anderen Touristen kehrt auch Tomas zurück, doch die Beziehung zu Frau und Kindern ist nun tief erschüttert. Spricht man zunächst nicht über das Ereignis, sondern isst auf der Terrasse am Tisch ruhig weiter und kehrt das soeben Erlebte unter den Tisch, so arbeitet es in Ebba doch weiter.


Nichts ist mehr wie vorher und schlimmer wird es, als Tomas sein Verhalten leugnet, als seine Frau dieses zunächst gegenüber zwei anderen Touristen, später, im leicht angetrunkenen Zustand auch gegenüber zwei Freunden anspricht, und Tomas von unterschiedlichen Sichtweisen und Wahrnehmungen spricht, obwohl doch seine Handyaufnahmen den Verlauf der Ereignisse dokumentieren.


Von Verdrängung der Schuld führt der Weg von Tomas über Scham bis zum Zusammenbruch, zu einem Weinkrampf vor der Tür des Hotelzimmers, bei dem offen bleibt, ob das nur eine Inszenierung ist, um seine Frau umzustimmen, der aber wieder ein ganz unmännliches Verhalten ist, mit dem er sich selbst in die Opferrolle stellt. Während er die Kinder damit für sich gewinnt, die sich schützend im Zimmer über ihn legen, müssen sie die Mutter erst für eine Annäherung gewinnen. Doch auch das Bild der Frau als die Kinder immer Schützende und das Eigenwohl hintanstellende entlarvt Östlund als angelernt und lässt es in der Schlussszene zerbrechen.


Meisterhaft und dank konzentrierter Inszenierung hochspannend seziert Östlund Rollenmuster, entwickelt in den langen statischen Einstellungen, unterstützt von großartigen unverbrauchten Schauspielern, enorme Intensität, und lässt auch den Witz nicht zu kurz kommen.


Kein runder, glatter und versöhnlicher Film, sondern ein eckiger, kantiger und unerbittlicher ist das. Böse und kühl ist der Blick auf Rollenverhalten und ihre Brüchigkeit, messerscharf wird aufgedeckt, wie durch das Durchbrechen dieser antrainierten und zugeschriebenen Verhaltensweisen und Geschlechterrollen leicht ganze soziale Gefüge zu zerbrechen drohen und nur mit Lügen und Täuschung wieder gekittet werden können. So fragt „Höhere Gewalt“ im Kern auch nach dem wahren Wesen des Menschen, nach Schein und Sein, nach der inneren Lawine, die durch einen leichten Knall ausgelöst werden kann.


Streaming bei filmingo.ch und filmingo.at sowie bei cinefile.ch - TV-Ausstrahlung am 19./20.12. um 00.00 Uhr auf 3sat.


Trailer zu "Höhere Gewalt - Turist"



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