top of page

Santosh

  • Autorenbild: Walter Gasperi
    Walter Gasperi
  • vor 1 Tag
  • 3 Min. Lesezeit

Mit den Augen einer jungen Polizistin, die im Fall eines vergewaltigten und ermordeten Teenagers ermittelt, lässt Sandhya Suri auf Willkür, Gewalt, Korruption und Sexismus der indischen Polizei blicken: Ein fesselnder, sozialrealistisch grundierter Thriller.


Straff ist die Exposition des im ländlichen Nordindien spielenden Spielfilmdebüts der indisch-britischen Regisseurin Sandhya Suri: Nachdem der Mann der 28-jährigen Santosh (Shahana Goswami) als Polizist im Einsatz bei Unruhen getötet wurde, wollen die Schwiegereltern nichts mehr mit der Witwe zu tun haben. Auch die Wohnung droht Santosh zu verlieren, handelt es sich dabei doch um eine Dienstwohnung, die dem Staat gehört.


Ausweg scheint einzig eine staatliche Initiative zu bieten, die Witwen von Polizisten den Posten ihrer verstorbenen Männer "erben" lässt. Die scheinbar soziale Maßnahme dient aber vor allem dazu die Frauenquote in dem vorwiegend männlich besetzten Beruf zu erhöhen.


Ganz aus der Perspektive von Santosh erzählt Suri. In praktisch jeder Szene ist sie präsent und mit ihren Augen taucht man in die Polizeiwelt ein. Rasch werden hier Sexismus der männlichen Kollegen, allgegenwärtige Korruption und Machtmissbrauch sichtbar. Auch vor der Prügelstrafe schreckt man nicht zurück. Kein Gehör finden aber die Beschwerden der unteren Kasten, auch eine islamophobe Stimmung wird sichtbar.


Man spürt die Herkunft Suris vom Dokumentarfilm in der Einbettung der Handlung in einen atmosphärisch dicht eingefangenen sozialen Hintergrund. Verstärkt wird die quasidokumentarische Qualität dabei durch den Verzicht auf extradiegetische Musik.


Nie verselbstständigt sich diese Milieuschilderung aber, sondern bleibt immer eingebunden in eine stringent und fesselnd entwickelte Thrillerhandlung. Reagiert die Polizei zunächst nämlich auf die Meldung eines Vaters über das Verschwinden seiner 15-jährigen Tochter nicht, da es sich um Angehörige der untersten Kaste Dalit handelt, so muss sie doch aktiv werden, als die Leiche des Teenagers gefunden wird.


Da es sich um einen Frauenmord handelt, wird die erfahrene Polizistin Sharma (Sunia Rajwar) mit der Klärung des Falls beauftragt. Im Stil eines klassischen Thrillers ermittelt sie gemeinsam mit Santosh, die zunehmend erkennt, wie sehr ihre erfahrene Kollegin im verrotteten, männlich dominierten Polizeisystem mitspielt und integriert ist.


Mit Santoshs Augen erkennt man so, dass es nicht um Gerechtigkeit und Wahrheitsfindung geht, sondern vor allem darum einen Angehörigen der untersten Klasse zu verhaften und mit brutaler Folter, die Bevölkerung vor weiteren Morden abzuschrecken.


Auch wenn dabei bei einer langen Folterszene das meiste im visuellen Off passiert, mutet Suri den Zuschauer:innen einiges zu, rechnet aber auch schonungslos mit dem Kastensystem ab, wenn Sharma Santosh erklärt: "Es gibt in Indien zwei Arten von Unberührbaren: Diejenigen, die niemand berühren will, und diejenigen, die niemand berühren darf."


Kein Wunder ist es so, dass es im Film immer wieder zu Protesten gegen die Polizei kommt. Auch bei Santosh kommen zunehmend Zweifel an ihrer Arbeit auf. Geschickt spielt Suri mit dem Kontrast zwischen der sauberen Uniform, die ihren Träger:innen Autorität und Macht verleiht, und dem Missbrauch dieser Macht.


Gleichzeitig kann man in Santosh eine jüngere Version ihrer erfahrenen Kollegin Sharma erkennen. Einst hat wohl auch sie voll Idealismus den Polizeidienst angetreten, hat sich aber längst mit dem System arrangiert. Wie diese Einverleibung funktioniert, wird klar, wenn Santosh gezwungen wird, bei der Folterung auch selbst aktiv zu werden.


Spürbar macht Shahana Goswani in ihren Blicken Santoshs wachsende Zweifel an der Polizeiarbeit und ihre Gewissensbisse.  Gibt es für sie wirklich nur die Möglichkeit eine Frau wie Sharma zu sein oder aber aus dem System auszusteigen und eine Frau zu werden, die nichts hat?


Klassisches an westlichen Erzählstrategien orientiertes Thrillerkino mit starkem sozialkritischem Impetus ist Suri so mit ihrem Spielfilmdebüt gelungen, das einerseits von Großbritannien als bester internationaler Film für die Oscars eingereicht wurde, andererseits in Indien von der Zensur verboten wurde. Gleichzeitig präsentiert sie mit ihrer Titelheldin und Sharma zwei eindrückliche Frauenfiguren, die versuchen, sich in einer männlich dominierten Gesellschaft zu behaupten, dabei aber unterschiedliche Wege einschlagen.

 


Santosh

Großbritannien / Indien / Deutschland / Frankreich 2024

Regie: Sandhya Suri

mit: Shahana Goswami, Sunita Rajwar, Arbaz Khan, Sanjay Bishnoi, Nawal Shukla

Länge: 128 min.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.



Trailer zu "Santosh"


Comments


bottom of page