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  • AutorenbildWalter Gasperi

Rien à foutre


Emmanuel Marre und Julie Lecoustre verbinden die schonungslose quasidokumentarische Schilderung der Arbeitsbedingungen bei einer Billig-Airline mit einem Familiendrama. – Herausragend in der Hauptrolle: Adèle Exarchopoulos.


Wenn die Flugtickets fast nichts kosten, muss das Geld über den Verkauf von Duty Free-Waren hereinkommen. Klar geschult werden die Flugbegleiterinnen, um hier den Absatz anzukurbeln. Aber auch mit Extragebühren fürs Reisegepäck kann man Geld hereinholen. Zum Verzweifeln bringt dies eine junge Frau, die zum 18. Geburtstag ihres Bruders nach Hause fliegen will, nun aber für ihren Rucksack bezahlen soll, den sie beim letzten Flug noch problemlos mitnehmen konnte. - Dokumentarisch wirken diese Szenen, echt die Fluggäste ebenso wie das Personal der fiktiven Billig-Airline Wing.


Ins Zentrum rücken Emmanuel Marre und Julie Lecoustre aber die Flugbegleiterin Cassandre (Adèle Exarchopoulos), die seit fast drei Jahren bei Wing arbeitet. Über ihren privaten und familiären Hintergrund erfährt man nur, dass ihre Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Der Fokus liegt ganz auf ihrem beruflichen Alltag.


Wiederkehrende Bilder vom Flug über den Wolken, die Freiheit und Entspannung evozieren, stehen in scharfem Kontrast zur Realität des Jobs. Auch das Bild von Stopps in prächtigen, ganz unterschiedlichen Destinationen wird rasch entzaubert. Denn Stress und permanenter Druck bestimmt Cassandres Alltag. Mal muss das Flugzeug in Windeseile gereinigt werden, dann wird sie in eine weitere Ausbildung gedrängt, da sonst ihr Vertrag nicht verlängert werden könne.


Gewerkschaftler, die gegen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen streiken, interessieren sie dennoch nicht und sie drängt sich an ihnen vorbei zu ihrem Arbeitsplatz. Bald geht es mit dem Partyflieger nach Lanzarote, dann ins verregnete Warschau. Am Zielort stürzt sie sich nachts selbst in die Parties oder trifft sich via Tinder zum One-Night-Stand. Von den Orten an sich sieht man nichts, denn die Kamera ist immer hautnah an Cassandre dran.


Solidarität unter den Flugbegleiterinnen gibt es kaum. Jede ist hier sich selbst die nächste. Dazu kommen Kontrollen bezüglich der Nüchternheit und unangenehme Fluggäste. – Dennoch muss immer gelächelt werden.


Solange Cassandre ihre Fluguniform trägt, ist sie selbstischer und konzentriert, doch wenn sie diese ablegt und sich abschminkt, wird hinter der Fassade ein ganz anderer Mensch sichtbar. Zerbrechlich und verloren wirkt Cassandre dann, sehnt sich nach dem One-Night-Stand nach ein bisschen Zärtlichkeit.


Im Beruf lässt sie alles mehr oder weniger teilnahmslos mit sich machen, begehrt nie auf, dennoch wird sie fristlos entlassen, als sie einmal eine Vorschrift überschreitet und sich fürsorglich um einen Fluggast kümmert.


Abrupt wechselt "Rien á foutre" vom schonungslosen Blick auf die Airline zum Familiendrama, wenn Cassandre in ihre Heimatstadt zurückkehrt. Quasi ein neuer Film beginnt mit der Fokussierung auf ihrer harmonischen Familie mit Vater und Schwester, die aber immer noch vom Tod der Mutter schwer erschüttert ist. Beneidet wird hier Cassandre von ihren Freundinnen dafür, wie sie zwischen Mailand, Mykonos, Warschau und Lanzarote hin und her jettet, doch die ZuschauerInnen wissen, was in Wahrheit hinter diesem Leben steckt. Dennoch scheint Cassandre nicht auf Dauer in der Stadt leben zu können, in der ihre Mutter verstorben ist.


Stark ist "Rien á foutre" einerseits im detailreichen und schonungslosen Blick auf die Arbeitsbedingungen bei den Billig-Airlines, anderseits durch das großartige Spiel von Adèle Exarchopoulos, die vor sieben Jahren durch ihre Hauptrolle in Abdellatif Kechiches "La vie d´Adèle" berühmt wurde, seither aber nur in kleineren Rollen auf der Leinwand zu sehen war. Fast in jeder Szene ist sie präsent und vermittelt eindrücklich die Einsamkeit und Verlorenheit Cassandres, ihre Trauer und ihre Suche nach sich selbst. – Dass der Film in zwei Teile zerfällt, die nicht wirklich zusammenpassen, steht auf einem anderen Blatt.


Rien à foutre Belgien / Frankreich 2021 Regie: Emmanuel Marre, Julie Lecoustre mit: Adèle Exarchopoulos, Alexandre Perrier, Mara Taquin, Arthur Egloff, Tamara Al Saadi Länge: 115 min.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan


Trailer zu "Rien à foutre"


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