Soudade Kaadan entwickelt vor dem bedrückenden Hintergrund des syrischen Bürgerkriegs in ihrem Kammerspiel ein ebenso sanftes wie poetisches Drama um Coming-of Age und weibliche Selbstermächtigung.
Halbdunkel ist es in der Wohung, in der die 14-jährige Zeina (Hala Zein) mit ihren Eltern Motaz (Samer al-Masri) und Hala (Kinda Alloush) in Damaskus lebt. Die Fensterläden und Jalousien bleiben auch tagsüber geschlossen, damit niemand merkt, dass hier noch jemand wohnt. Als Zeina doch einmal ein Fenster öffnet, sieht man auf den zerbombten Straßenzug.
Ihre ältere Schwester ist schon geflohen. Unbekannt ist ihr derzeitiger Aufenthaltsort. Der Vater aber lehnt eine Flucht entschieden ab. Auf keinen Fall will er ein Flüchtling werden. Er gibt sich als Handwerker, der alles reparieren und so für ein halbwegs alltägliches Leben sorgen kann. Zur Stromerzeugung bastelt er einen Generator, der aber bald wieder den Geist aufgibt. Wasser holt er unter Lebensgefahr in einem Kanister von einem nahen Brunnen.
Doch die Gefahr rückt näher. Zwei Soldaten klopfen an die Tür und warnen vor einem bevorstehenden Angriff. Bald schlägt auch eine Rakete ein, reißt ein großes Loch in die Decke von Zeinas Zimmer und lässt die Fenster bersten. Motaz versucht die Löcher provisorisch mit Bettlaken zu verhängen, doch umgekehrt wecken die neuen Blicke durch die Löcher nach draußen und in den Himmel auch das Verlangen der pubertierenden Zeina nach einem Ausbruch.
Aber auch die Mutter lehnt sich langsam gegen den sturen und zunehmend autoritär bestimmenden Ehemann auf. Als ein Jugendlicher aus der Nachbarschaft ein Seil durch das Loch in der Decke wirft und Zeina aufs Dach des Hauses steigt, weitet sich ihr Blick. Ein youtube-Film des Jungen zeigt zwar noch die Kämpfe in der Nähe, doch dann zeigt er ihr in einem Film auch das Meer, das Zeinas Träume verstärkt.
So realistisch die Bilder der zerbombten Häuser sind, so real die Bedrohung in der Wohnung wirkt, so poetisch und sanft ist die Erzählweise Soudade Kaadans, die in ihren zweiten langen Spielfilm eigene Erfahrungen einfließen ließ. Langsam gleitet und schwenkt die Kamera von Burrak Kanhir und der französischen Star-Kamerafrau Hélène Louvart immer wieder durch die Wohnung und macht auch die Enge erfahrbar.
Aber spätestens, wenn die Rakete einschlägt, beginnen sich Realität und traumhafte Momente zu vermischen und die realistische Schilderung des Alltags in einer bedrückenden Bürgerkriegssituation tritt sukzessive gegenüber einer weiblichen Emanzipationsgeschichte in den Hintergrund. Ist so über eine Stunde die Wohnung, die auch als gesellschaftliches Gefängnis in einer patriarchalen Gesellschaft gelesen werden kann, der einzige Schauplatz von "Nezouh", so bricht Kaadan diesen engen Raum im letzten Drittel auf.
Zeinas kurze Ausflüge aufs Dach werden abgelöst durch den Gang der Mutter und Tochter durch die zerbombten Straßen und schließlich durch einen Tunnel, der sie in die Welt jenseits der Belagerungsmauern führen kann. Die Familie freilich droht an diesem Befreiungsschlag, den der Vater nicht akzeptieren will oder kann, zu zerbrechen.
Bestechend ist an "Nezouh", dessen Titel übersetzt "Vertreibung der Seelen, des Wassers und der Menschen" heißt, nicht nur seine visuelle Schönheit, sondern auch die feinfühlige und nie aufgesetzte Verbindung von zwei Ebenen. Denn einerseits erinnert Kaadan in der Verankerung ihres Films im zerbombten Damaskus eindrücklich und erschütternd an den Schrecken des inzwischen fast in Vergessenheit geratenen syrischen Bürgerkriegs, andererseits erzählt sie eine zeitlose und universelle Emanzipations- und Coming-of-Age-Geschichte.
So bedrückend dabei auch der zeitgeschichtliche Hintergrund sein mag, so lässt "Nezouh" mit seiner sanften Erzählweise und seinem finalen Aufbruch aus der Enge doch nicht niedergeschlagen zurück, sondern verbreitet mit seinen weiten und lichtdurchfluteten Schlussbildern in offener Landschaft den Glauben, dass ein befreites Leben jenseits der von patriarchalen Machtansprüchen bestimmten Wohnung möglich ist. – Am Zug ist dabei schließlich der Mann, der auf die neue Position der Frau reagieren und diese akzeptieren muss, wenn er Ehe und Familie erhalten will.
Nezouh Syrien / Großbritannien / Frankreich 2022 Regie: Soudade Kaadan mit: Hala Zein, Kinda Alloush, Samer al-Masri, Nizar Alani, Nabil Abousalih, Samer Seyyid Ali Länge: 103 min.
Läuft jetzt in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und demnächst im Skino Schaan.
Trailer zu "Nezouh"
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