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  • AutorenbildWalter Gasperi

Nemesis


Ausschließlich aus dem Fenster seiner Wohnung filmte Thomas Imbach den Abbruch des Zürcher Güterbahnhofs und den Neubau eines Gefängnisses und Polzeizentrums und verknüpft den Bilderfluss mit persönlichen Reflexionen und Erzählungen von Asylant*innen. – Ein bildstarkes Werk, das mit über zwei Stunden Laufzeit aber auch Geduld fordert.


Zwischen Mai 2013 und Januar 2020 hielt Thomas Imbach immer wieder mit der Kamera die Ereignisse auf dem Gelände vor seiner Wohnung fest. Sein Fenster öffnet nicht im Sinne Hitchcocks den Blick auf einen Innenhof und gegenüberliegende Wohnungen, sondern auf den Güterbahnhof in Zürichs Kreis 4. Im Voice-over informiert Milan Peschel als Erzähler über den noch im ausgehenden 19. Jahrhundert im Stil des Historismus errichteten Bau, die heftigen Diskussionen über dessen Abbruch und den umstrittenen Neubau des Polizeizentrums und Gefängnisses.


Am Beginn des Films stehen zwar Presslufthammer und Abrissmaschinen und am Ende die Fristfeier des neuen Gebäudes, doch dazwischen gibt es keine zwingende Chronologie. Die Bilder vom Bau, bei denen durch Zeitraffer die gewaltigen Bagger und die Arbeiter in oranger und gelber Arbeitskleidung und Helm wie Playmobilautos und -figuren in einer Spielzeuglandschaft wirken, werden immer wieder von alltäglichen Szenen unterbrochen.

Bald sieht man so auf dem Gelände ein sich küssendes Paar, bald eine junge Frau für ein Fotoshooting posen, später eine tanzende Gruppe oder junge Migranten beim Boxtraining. Auch ein Streetfood-Festival findet hier einmal statt und immer wieder streift ein Fuchs herum. In diese Szenen mischen sich die Bilder vom langsamen Werden des Neubaus.


In diesem Abbruch des Bahnhofs und der Errichtung des Betonklotzes spiegelt sich aber auch eine gesellschaftliche Entwicklung. Denn an die Stelle der Mobilität der Eisenbahn, die Zürich mit dem Handel auch Wohlstand brachte, tritt mit dem Gefängnis und dem Polizeizentrum ein Komplex, der für Abschottung, Kontrolle und Sicherheitsstreben steht, das auch mit dem Umgang mit Asylant*innen korrespondiert.


Geprägt wird der visuelle Eindruck dabei auch vom Wechsel der Jahreszeiten von sommerlicher Stimmung bis zu heftigem Schneefall und immer wieder filmt Imbach die mächtig in einen dunklen Gewitterhimmel ragenden Kräne. Atmosphärisch verstärkt werden die Bilder durch das Sound-Design von Peter Bräker und Songs der Band Nemesis.


Die Bilder sind aber nur eine Komponente von "Nemesis", denn auf der akustischen Ebene kommen zunächst einmal persönliche Erinnerungen Imbachs dazu. Mit dem Abbruch des Bahnhofs und der Zerstörung dieser historischen Bausubstanz korrespondieren dabei Gedanken an die menschliche Vergänglichkeit, wenn immer wieder der Tod, sei es der des Großvaters, der der Mutter oder der mit ihm befreundeten Kollegen Klaus Lutz und Hans Liechti im Zentrum steht. Mehrfach visualisiert Imbach dieses Thema auch mit dem Verglühen von Feuerwerkskörpern, bei denen zudem die Silvesternacht an das Vergehen der Zeit erinnert.


Mit dem Hinweis auf frühere Ausländerfeindlichkeit gegen italienische Arbeiter um 1900 und auf die Annahme des Volksbegehrens "Gegen Masseneinwanderung" (2014) schlägt Imbach schließlich die Brücke zur dritten Ebene des Films. Denn zu den persönlichen Reflexionen des Regisseurs kommen mit Fortdauer des Films zunehmend mehr Erzählungen von Asylant*innen, mit denen Lisa Gerig in einem Ausschaffungslager beim Zürcher Flughafen Gespräche führte. Wenn in diesen auch von Milan Peschel vorgetragenen Schilderungen beispielsweise ein Eritreer, ein Kurde oder eine Nepalesin eindrücklich Einblick in die bedrückenden Erfahrungen und die Gefahren in ihrer Heimat bieten, wird "Nemesis" auch zum offen politischen Film, der entschieden Partei gegen die Abschiebung bezieht.


Ganz privat und auf der anderen Seite doch wieder sehr welthaltig ist so "Nemesis", dessen Titel auf die griechische Rachegöttin verweist, die aus Scham über die Dekadenz der Menschen die Erde verließ. Allerdings verlangt dieser ruhige Fluss teils sich auch wiederholender Bilder bei einer Laufzeit von über zwei Stunden auch ein geduldiges Publikum.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos - z.B. im Kinok in St. Gallen


Trailer zu "Nemesis"


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