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Narben eines Putsches

  • Autorenbild: Walter Gasperi
    Walter Gasperi
  • vor 4 Stunden
  • 3 Min. Lesezeit
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Ausgehend vom Schicksal ihres Mannes Abidin Ertugrul spürt Nathalie Borgers in ihrem bewegenden Dokumentarfilm dem Widerstand gegen den türkischen Militärputsch vom 12. September 1980 nach und prangert auch die Ignoranz des Westens an.


Hautnah fährt Nathalie Borgers mit ihrer Handykamera den nackten Bauch von Abidin Ertugrul ab. Nicht nur jedes Haar wird so übergroß sichtbar, sondern auch die Narben dazwischen. Von sieben Schüssen wurde Abidin 1976 als 22-jähriger, linkspolitisch aktiver Student getroffen, als rechtsextreme Milizionäre ihn und seine Mitstudenten aus einem Bus zerrten und auf sie schossen.


Fünf Monate lang lag er im Krankenhaus, konnte seine Hand zunächst nicht mehr bewegen, erholte sich dann aber und setzte seinen Kampf für die türkische Demokratie fort. Revolutionäre seien sie gewesen, Genaueres dazu erfährt man allerdings nicht. Bekannt ist aber, dass in den 1960er Jahren große Hoffnungen in eine Demokratisierung der Türkei gesetzt wurden, das Land in den 1970er Jahren aber in eine schwere Krise stürzte.


In rascher Folge wechselten Regierungen, politische Instabilität und Terrorakte rechts- und linksradikaler Gruppen bestimmten das Jahrzehnt. Am 12. September 1980 putschte sich schließlich das Militär unter General Kenan Evren an die Macht. Purer Zynismus war das Versprechen einer "wahren Demokratie", denn brutal wurde gegen Oppositionelle vorgegangen. Zehntausende wurden festgenommen, gefoltert oder verschwanden teilweise für immer, die Meinungsfreiheit wurde abgeschafft und die Macht mit einer neuen Verfassung legitimiert.


Wie viele Antifaschist:innen verließ auch Abidin kurz nach dem Putsch das Land und kam im Januar 1981 nach Österreich. 2008 lernte die in Wien lebende belgische Regisseurin Nathalie Borgers den ehemaligen Aktivisten kennen, 2010 heirateten sie. Ausgehend von seinen Narben spürt Borgers in ihrem bewegenden Dokumentarfilm nicht nur dem damaligen Widerstand gegen den Putsch nach, sondern deckt auch dessen Folgen auf.


Ebenso konkret wie metaphorisch ist so auch der Filmtitel zu verstehen und weitet den Blick von den physischen Narben Abidins zu den Narben, die die Diktatur in der türkischen Gesellschaft hinterlassen hat und die bis heute nachwirken.


Vom Blick auf Familien- und Studentenfotos Abidins holt Borgers zu einer Reise in die Türkei aus, bei der sie ihre Schwägerin ebenso interviewt, wie die Mutter eines jahrelang Inhaftierten und andere Aktivist:innen. Erschütternd machen die detaillierten Schilderungen von den Folterungen und den Schikanen bei den Besuchen im Gefängnis die Brutalität des Regimes sichtbar und immer wieder lassen diese Erinnerungen die Zeitzeuginnen in Tränen ausbrechen.


Aber auch die Ignoranz des Westens wird angeprangert. Eindrücklich wird diese sichtbar, wenn Archivmaterial zeigt, wie die britische Premierministerin Margaret Thatcher die damals einsetzende neoliberale Entwicklung in der Türkei lobte und General Kenan Evren von Queen Elisabeth ebenso wie von US-Präsident Ronald Reagan offiziell empfangen wurde.


Besonders einprägsam zeigt diese Ignoranz aber die Reaktion auf eine Protestaktion während des Fußballspiels Austria Wien gegen Galatasaray Istanbul im November 1982. Während die beiden gealterten Aktivisten die Aktion nachstellen, indem sie im leeren Stadion mit einem Transparent, das zum Sturz der Diktatur aufruft, aufs Spielfeld stürmen, vermittelt die damalige TV-Übertragung die Perspektive der österreichischen Öffentlichkeit. Nicht von Aktivisten, die gegen Menschenrechtsverletzung und für Demokratie kämpfen, spricht hier der Sportreporter des ORF, sondern stempelt die beiden Männer, die das Spiel stören, zu "Fanatikern" und "aggressiven Übeltätern" ab.


Gleichzeitig schlägt Borgers mit dem wiederholten Blick Abidins auf TV-Nachrichten über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei auch den Bogen zur Gegenwart und vermittelt mit der Rückwidmung der Hagia Sophia vom Museum zur Moschee und Demonstrationen gegen Erdogan auch ein beunruhigendes Bild der heutigen Re-Islamisierung der Türkei und der Zerschlagung der Demokratie.


Dennoch verfällt "Narben eines Putschs", der gegen Ende nicht frei von Redundanzen ist und dessen Wirkung eine Kürzung wohl nicht geschadet hätte, nicht in Pessimismus, sondern feiert mit dem Schlussbild von knorrigen Olivenbäumen auch die Kraft eines beständigen und ungebrochenen Widerstands. Narben eines Putsches

Österreich / Belgien 2024 Regie: Nathalie Borgers 

Dokumentarfilm Länge: 102 min.



Läuft derzeit in den österreichischen Kinos.



Trailer zu "Narben eines Putsches"


 

 

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