Walter Gasperi
Madeleine Collins

Getragen von einer starken Performance von Virginie Efira erzählt Antoine Barraud von einer Frau, die ein Doppelleben mit zwei Familien führt: Raffiniert aufgebauter und elegant inszenierter Mix aus Psychogramm und an Hitchcock orientiertem Thriller, der am Ende aber zu viel offen lässt.
Nicht nur Spannung, sondern auch Irritation baut schon die Einstiegsszene auf, in der eine Frau zunächst in der Umkleidekabine eines vornehmen Kleidergeschäfts in Ohnmacht fällt und dann offensichtlich nochmals – nun aber im visuellen Off - vor dem Geschäft tragischer zusammenbricht oder stürzt. – Offen bleibt lange, ob dieser Auftakt spätere Ereignisse vorweg nimmt oder chronologisch vor dem Folgenden liegt. Auch über die Identität der Frau darf man rätseln.
Denn mit dem Ende des Vorspanns setzt Antoine Barrauds dritter langer Spielfilm mit der Simultanübersetzerin Judith (Virginie Efira) neu ein. Ein glückliches Familienleben in gehobenen Kreisen führt sie scheinbar mit ihrem Mann Melvil (Bruno Salomone), einem erfolgreichen Orchesterdirigenten, und zwei Söhnen. Ihre Arbeit allerdings zwingt sie nach eigener Aussage aber beinahe wöchentlich zu mehrtägigen Reisen ins Ausland.
In Wahrheit fährt sie aber nur von Frankreich in die Schweiz, wo sie mit dem deutlich jüngeren und arbeitslosen Abdel (Quim Gutiérrez) und der dreijährigen Ninon eine zweite Familie hat. Während Abdel von der anderen Familie zu wissen scheint, spielt Judith auch Ninon vor, dass sie immer wieder geschäftlich verreisen muss.
Die Musik orientiert sich immer wieder an den Thrillern Alfred Hitchcocks und auch das Spiel mit der doppelten Identität erinnert an die Filme des Masters of Suspense, vor allem natürlich an "Vertigo". Doch der Thriller ist hier vor allem Verpackung für das Psychogramm einer Frau in einer schweren psychischen Krise.
Spannung entwickelt Barraud dabei dadurch, dass er lange keine Erklärungen liefert und sich darauf beschränkt dieser Judith, die in jeder Szene präsent, ist zu folgen. Wechselt sie zunächst scheinbar souverän zwischen den beiden Leben, treten sukzessive Belastungen und Risse zu Tage. Bald bricht sie bei einem Konzert ihres Mannes beinahe zusammen, dann wieder erklärt ihr Abdel, dass er so nicht weiter leben wolle.
Großartig wechselt Virginie Efira zwischen diesen beiden Rollen und macht eindrücklich die zunehmende Belastung und die Zerrissenheit dieses Doppellebens erfahrbar. In raffiniertem Aufbau lässt Barraud das Publikum dabei lange über die Motive und Hintergründe dieses geheimen Doppellebens rätseln, baut langsam Verbindungen zwischen den beiden Ebenen auf und lässt die Zusammenhänge erahnen, die schließlich nach etwa einer Stunde aufgeklärt werden.
Immer mehr stürzt damit nicht nur Judith in die Krise, sondern speziell ihre Kinder in beiden Familien belasten die wiederholte Abwesenheit der Mutter und ihre offensichtlichen Geheimnisse. Während der Teenager Joris so zunehmend aggressiv reagiert, muss die traurige Ninon immer wieder beruhigt werden.
So großartig die Belgierin Efira, die derzeit wohl der gefragteste Star des französischen Kinos ist, aber auch spielt und so elegant das auch inszeniert ist, so kommt man dieser Frau, die auch beruflich als Dolmetscherin quasi in andere Rollen schlüpft, letztlich doch nicht wirklich nahe. Ganz auf die Gegenwart fokussiert und auf Hintergrundinformationen verzichtend, werden die Gründe für ihr Doppelleben und ihre Identitätskrise nicht wirklich nachvollziehbar.
Wenn am Ende im Autoradio die Songzeile "It´s strange and weird" zu hören ist, scheint Barraud zwar gerade diese unerklärlichen Abgründe der menschlichen Psyche herausstreichen zu wollen, befriedigt lässt diese Offenheit die Zuschauer*innen aber kaum zurück.
Madeleine Collins Frankreich /Belgien / Schweiz 2021 Regie: Antoine Barraud mit: Virginie Efira, Quim Gutiérrez, Bruno Salomone, Jacqueline Bisset, François Rostain, Loïse Benguerel, Thomas Gioria, Valérie Donzelli, Nadav Lapid Länge: 102 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen
Trailer zu "Madeleine Collins"