
Mit seinem neunten Spielfilm erweist sich der Japaner Kōji Fukada als Meister des feinfühligen Familien- und Beziehungsdrama: In leiser und ruhiger Inszenierung lotet er differenziert die Beziehungen der Protagonist:innen, die Brüchigkeit der Liebe und daraus resultierenden Verrat und den Umgang mit Trauer aus.
Mit "Love Life" bewegt sich Kōji Fukada auf den Spuren von Hirokazu Kore-eda. Wie sein ungleich berühmterer Landsmann in Filmen wie "Still Walking" (2008) oder "Like Father, Like Son" (2009) nimmt er die komplexen Beziehungen in einer Familie unter die Lupe und setzt auf eine ausgesprochen leise und ruhige Inszenierung.
Angeregt wurde Fukada zu seinem neunten Spielfilm durch Akiko Yanos 1991 veröffentlichten Song "Love Life". Um die Jahrtausendwende soll der 1980 geborene Regisseur ihn erstmals gehört haben und seither geplant haben, ihn als Grundlage für einen Film zu verwenden. Nun hört man diesen Song, dessen Dialogzeile "Du kannst lieben, egal wie weit ihr voneinander entfernt seid" "Love Life" vorangestellt ist, zum Abspann in seiner ganzen Länge.
Mitten hinein in die Vorbereitungen für ein Familienfest wirft Fukada die Zuschauer:innen. Girlanden werden in der Wohnung von Taeko (Fumino Kimura) und Jirō (Kento Nagayama), die seit etwa einem Jahr verheiratet sind, aufgehängt. Auf dem Platz vor der Wohnung planen Arbeitskollegen einen Glückwunschgruß mit großen Buchstaben und in der Wohnung will der sechsjährige Keita, den Taeko aus einer früheren Ehe in die Beziehung gebracht hat, mit der Mutter immer wieder ein Brettspiel spielen, in dem er ein echter Champion ist.
Leise Bruchlinien werden aber sichtbar, als Taeko unter den Arbeitskolleg:innen ihres Mannes auch eine junge Frau (Hirona Yamazaki) entdeckt, die ihr bislang unbekannt war. Auf Anhieb erkennt sie in ihr eine frühere oder immer noch aktuelle Geliebte Jirōs. Als sie ihren Mann darauf anspricht, will er aber nicht darüber reden.
Offenere Spannungen werden mit dem Eintreffen von Jirōs Eltern, die im Wohnblock gegenüber wohnen, sichtbar. Während die Mutter sich freundlich gegenüber Taeko verhält, macht der Schwiegervater kein Hehl aus seiner Ablehnung ihr gegenüber, weil sie schon einmal verheiratet war. Trotz einer schweren Beleidigung bleibt Taeko aber höflich, bemüht sich um eine Entspannung der Situation.
Trotz dieser mehr oder weniger offenen Bruchlinien ist die Stimmung beim Fest anlässlich des Geburtstags des Schwiegervaters und eines Siegs Kaitos bei einem Spielwettbewerb heiter, bis ein ebenso unvermuteter wie tragischer Unfall zu einer völligen Wende führt.
An die Stelle der Gespräche treten nun Schweigen und Schuldgefühle. Im ruhigen Blick Fukadas wird die Schwierigkeit mit Trauer und Verlust umzugehen, spürbar. Bewegung kommt aber wieder in die Handlung durch das unerwartete Auftauchen von Taekos koreanischem Ex-Mann (Atom Sunada), der vor fünf Jahren wortlos die Familie verlassen hat und nun obdachlos auf den Straßen lebt.
Obwohl dieser taubstumme Park Taeko zunächst heftig physisch angreift, glaubt die bei einer Suppenküche arbeitende und am Helfersyndrom leidende Mittdreißigerin sich um ihn kümmern zu müssen. Sie verschafft ihm Gelegenheitsjobs und eine Wohnung, gleichzeitig begegnen sich aber auch Jirō und seine ehemalige Geliebte wieder und sprechen sich aus.
Die Kunst Fukadas besteht im Feingefühl und in der Genauigkeit, mit der er Figuren und ihre Beziehungen auslotet. Er verzichtet auf die klassische Schuss-Gegenschuss-Methode, inszeniert weitgehend in langen und ruhigen Halbtotalen, in denen er seinen großartigen Schauspieler:innen viel Raum und Zeit lässt zu schweigen oder sich auszusprechen.
Dichte entwickelt "Love Life" dabei auch durch die Konzentration auf wenige Figuren und die Beziehungsdynamik. Ein kurzer Einblick auf das soziale Engagement Taekos bei den Suppenküchen und Jirōs Bürojob im Rathaus reicht aus. Aber auch die Wohnung von Taeko und Jirō als zentralem Schauplatz, in die der Film immer wieder zurückkehrt, sorgt für einen Ankerpunkt.
Da mögen sich die Protagonist:innen auseinander bewegen und Parallelmontagen die räumlich Distanz betonen, so sind es doch auch wieder diese Parallelmontagen, die sie zusammenschnüren. Fukada betont aber nichts besonders. Nur in wenigen Momenten großer Erregung setzt er eine dynamische Handkamera ein, inszeniert davon abgesehen aber ausgesprochen ruhig.
Auch die vorwiegend gedeckten Farben tragen zu dieser Unauffälligkeit, aber Stimmigkeit bei, während Details wie ein am Boden liegendes Spiel, der Blick ins Badezimmer oder eine am Fenster hängende CD, die immer wieder Lichtreflexe in die Wohnung oder auch nach draußen wirft, an Gewicht gewinnen und im Gedächtnis haften bleiben.
Weil sich die Gefühle der Charaktere dabei als brüchig erweisen, schlägt auch die Handlung überraschende Wendungen und nicht nur Taeko, Jirō und Park, sondern auch Jirōs Ex-Geliebte begehen einen Verrat oder gestehen, diesen begangen zu haben. Auch hier kommen wieder Schuldgefühle ins Spiel, aber auch die Sehnsucht nach Vergebung und der Wunsch Fehler wiedergutzumachen, wenn immer wieder um Verzeihung gebeten wird.
Wie trotz all dieser menschlichen Unzulänglichkeiten und Fehler das Leben doch weiter geht, zeigt sich bei einem auf Taeko herabprasselnder Wolkenbruch, bei dem sie zu tanzen beginnt, und auch innere Reinigung und Erlösung zu finden scheint. Auf Dauer gewonnen ist damit aber noch nichts, denn ein neuer Weg in der Beziehung wird erst wieder gesucht und gefunden werden müssen.
Love Life Japan / Frankreich 2022 Regie: Kōji Fukada mit: Fumino Kimura, Kento Nagayama, Atom Sunada, Hirona Yamazaki, Misuzu Kanno, Tetta Shimada, Tomorō Taguchi, Akari Fukunaga Länge: 123 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.
Trailer zu "Love Life"
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