
Maria Brendle inszeniert den Fall der Damenschneiderin Frieda Keller, die 1904 in St. Gallen ihr eigenes Kind tötete, als erschütterndes Drama, in dem präzise die gesellschaftlichen Hintergründe herausgearbeitet und angeprangert werden.
Nachdem sich die deutsch-schweizerische Regisseurin Maria Brendle in ihrem 2022 für den Oscar als besten Kurzfilm nominierten Kurzspielfilm "Ala Kachuu - Take and Run" mit dem Brautraub in Kirgistan auseinandersetzte, widmet sie sich auch in ihrem ersten Langspielfilm der Unterdrückung der Frau in einer patriarchalen Gesellschaft.
Von Zentralasien hat sie dabei den Fokus zwar auf die ihr vertraute Schweiz verschoben, schafft aber andererseits Distanz durch das historische Geschehen. Rasch ist im Frühjahr 1904 der Fall um den Fund der halbverwesten Leiche eines fünfjährigen Kindes im Hagenbuchwald bei St. Gallen geklärt. Eindeutig kann nämlich eine Ordensschwester der Kinderbewahrungsanstalt "Tempelacker" anhand der Kleidung den Toten als Ernst Keller identifizieren. Sofort ist auch die dazu befragte Mutter Frieda Keller geständig.
Weder um die Suche nach der Täter:in noch um dessen/deren Überführung geht es folglich Maria Brendle, sondern vielmehr nützt sie den Fall um Hintergründe auszuleuchten. In ebenso präzisen wie knappen Szenen arbeitet sie prägnant heraus, welche gesellschaftlichen Umstände die Mutter zu ihrer schrecklichen Tat veranlassten.
Klug verdichten Michèle Minelli, die sich schon 2015 im Roman "Die Verlorene – Friedas Fall" mit dem Schicksal Frieda Kellers beschäftigte, Robert Buchschwenter und Brendle selbst als Drehbuchautor:innen die Handlung auf wenige Figuren. Mit dem Gegensatz zwischen der zu ihrer Tat schweigenden Frieda (Julia Buchmann) und dem verknöcherten Staatsanwalt Walter Gmür (Stefan Merki), der unerbittlich die Todesstrafe fordert, werden treffend Klassengegensätze aufgedeckt.
Während Gmür im vornehmen Bürgerhaus lebt, am Abend Gäste zum Essen einlädt und mit dem Prozess auch politische Ziele verfolgt (eine auffallende Parallele zu Clint Eastwoods ebenfalls in den Kinos laufendem "Juror Nr.2"), lebte Frieda in ärmsten Verhältnissen. Kleine Szenen reichen hier aus, um diese Armut, die Frieda veranlasste, ihren Sohn "vom Leben zu erlösen" erfahrbar zu machen. Auch die Kinderbewahrungsanstalt "Tempelacker" trägt Mitschuld am Kindstod, da Ernst aus Platzgründen zur mittellosen Mutter abgeschoben wurde.
Gleichzeitig vermittelt Brendle aber auch das Bild einer Welt, deren alte Strukturen langsam zerbrechen. Mit Arnold Janggen (Max Simonischek) stellt sie nämlich dem alten Staatsanwalt einen jungen Rechtsanwalt gegenüber, der sich für seine Mandantin einsetzt und die gesellschaftlichen Aspekte, die Gmür nicht interessieren, ins Spiel bringt.
Mögen so die Männer auch die zentralen Akteure sein, so werden doch die öffentlich im Hintergrund stehenden Frauen als treibende Kräfte gezeichnet. So verbreitet Janggens junge, aus Deutschland stammende Frau (Marlene Tanczik) nicht nur mit ihrem selbstbewussten Auftreten, sondern auch mit ihrer hochdeutschen Sprache, die in markantem Gegensatz zum schweizerdeutschen Dialekt der Protagonist:innen steht, ein Gefühl von Moderne und Aufbruch.
Zentralere Rolle als Janggens Frau nimmt aber die Frau des Staatsanwalts ein. Diese Erna (Rachel Braunschweig) hat nicht nur im Haus das Sagen, sondern entwickelt auch - ganz im Gegensatz zu ihrem Mann - rasch große Empathie für die in einem Verlies im Keller eingesperrte Frieda.
Wohl auch aus Budgetgründen konzentriert sich "Friedas Fall" mit den Wohnungen von Staatsanwalt, Verteidiger und Friedas Schwester sowie dem Klosterhof von St. Gallen und der Stiftskirche auf wenige Schauplätze. Aber gerade dadurch sowie durch die Prägnanz der Szenen, die sorgfältige Ausstattung, die vorwiegend in dunkle Farben getauchten Bilder von Kameramann Hans Syz und die beklemmende Enge von Friedas von Ratten bevölkertem Verlies entwickelt dieses Drama große Dichte.
Eindrücklich lässt Brendle durch den Kontrast zwischen diesen bedrückenden Szenen und kurzen lichtdurchfluteten Rückblenden, in denen Frieda mit ihrem Freund Heiri Rothenfluh (Johannes Hegemann) an einem See oder auf einer Wiese lacht und von einer gemeinsamen Zukunft träumt, auch spüren, dass ein anderes, ein glückliches Leben möglich wäre.
Vorwerfen kann man "Friedas Fall" freilich, dass er speziell für den Film einer Debütantin sehr klassisch, ja geradezu altmodisch erzählt ist, doch darüber lässt nicht zuletzt das großartige Ensemble hinwegsehen. Mag Frieda auch etwas zu einseitig als herzensgute, fast schon heiligmäßige junge Frau gezeichnet werden, so gelingt es der Newcomerin Julia Buchmann doch deren aussichtslose Lage bewegend zu vermitteln.
Die 30-jährige St. Gallerin macht nicht nur die materielle Not spürbar, sondern auch die Scham, die in einer patriarchalen Gesellschaft, in der Männer nie zur Verantwortung gezogen werden, sondern vielmehr ihre weiblichen Opfer als liederlich und unzüchtig diskreditiert werden, Frauen bewegt, einen sexuellen Übergriff zu verschweigen statt ihn zu thematisieren.
Aber auch Rachel Braunschweig beeindruckt als Frau des Staatsanwalts, die entschlossen auftritt, Partei für die Schwache ergreift und sich ihrem Mann gegenüber als deutlich überlegen zeigt.
So stark und stimmig dieses Langfilmdebüt aber auch über weite Strecken ist, so sehr verliert es doch gegen Ende an Überzeugungskraft. Gerade der Prozess, der zum Höhepunkt werden sollte, erweist sich als Schwachpunkt, wenn der Verteidiger nochmals alle Vorwürfe an die Gesellschaft wiederholt, die zuvor schon in eindrücklichen Szenen erfahrbar wurden. Deklamatorisch scheint er mit dieser Gesellschaftskritik mehr das Kinopublikum informieren als das Gericht umstimmen zu wollen.
Die Prägnanz des Beginns fehlt aber auch den folgenden Szenen, wenn Frieda auf dem Klosterhof bald von einer geifernden Menge bespuckt wird, bald Frauen mit Plakaten für die Angeklagte und für Frauenrechte demonstrieren. Statt packend zu erzählen verfällt "Friedas Fall" hier ins Plakative und auch bei der finalen Wendung erreicht Brendle nicht mehr die punktgenaue Inszenierung, die die erste Hälfte ihres Films so stark machte. So beeinträchtigt dieser Schlussteil zwar leider den Gesamteindruck, zerstört wird das aufrüttelnde Drama dadurch aber nicht.
Friedas Fall
Schweiz 2024 Regie: Maria Brendle mit: Julia Buchmann, Rachel Braunschweig, Stefan Merki, Max Simonischek, Marlene Tanczik Länge: 107 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinotheater Madlen in Heerbrugg und im Kinok St. Gallen.
Trailer zu "Friedas Fall"
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