Die Straße – Der Film einer Nacht (1923)
- Walter Gasperi
- vor 15 Minuten
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Ein Kleinbürger flieht aus der ehelichen Wohnung, um in der nächtlichen Großstadt Abenteuer zu erleben: In der Edition Filmmuseum ist Karl Grunes Stummfilm, der das Genre des Straßenfilms begründete, zusammen mit dem Informationsfilm "Gefahren der Großstadtstraße" auf DVD erschienen.
Als Gegenpol zum Kammerspielfilm entstand im Kino der Weimarer Republik der Straßenfilm. Im Zentrum stand darin die Flucht aus der kleinbürgerlich-monotonen Enge ins pulsierende Großstadtleben, aber auch die Gefahren von letzterem.
Fast physisch spürbar wird diese Enge und Lähmung in den ersten Szenen von Karl Grunes 1923 entstandenem "Die Straße". Die distanzierten Totalen sperren den Ehemann, der wie alle Figuren des Films namenlos bleibt, förmlich in seiner kleinbürgerlichen Wohnung ein. Seine Frau bekocht ihn, doch Schatten, die von der Straße auf die Zimmerdecke geworfen werden, wecken andere Begierden.
Spürbar werden seine Sehnsüchte, wenn er sich beim Blick auf die nächtliche Straße auch noch eine Varietévorstellung und eine junge Frau vorstellt, während seine Frau nur den Straßenverkehr sieht. Magisch angezogen wird er förmlich von dieser Welt, stürzt aus der Wohnung und trifft bald auf eine Prostituierte, der er einerseits folgt, die er andererseits aber nicht anzusprechen wagt.
Sie lockt ihn schließlich in ein Tanzlokal, wo sie ihn mit ihrem Flirt mit einem anderen Mann eifersüchtig macht. Doch auch ihr Zuhälter und dessen Kumpan mischen hier mit, wenn sie die beiden Männer zum Kartenspiel bewegen.
Viel Zeit lässt sich Grune für die Schilderung des wechselnden Spielglücks, bis die beiden Bürger in die Wohnung der Prostituierten aufbrechen, wo deren Zuhälter ihnen ihr Geld abnehmen will. Ein Mord bleibt dabei nicht aus und als Verdächtiger wird der biedere Kleinbürger verhaftet ...
Parallel zu dieser Geschichte wird aber auch vom Kind des Zuhälters erzählt, das zunächst in Begleitung eines Blinden – des Großvaters? - nachts aus der Wohnung flieht, sich dann aber im Großstadttreiben verläuft, von der Polizei aufgegriffen und in die Wohnung zurückgebracht wird.
Fast ohne Zwischentitel kommt Grune aus, inszeniert aber mehr vor der Kamera als mit der Kamera. In ruhigen, langen Totalen und Halbtotalen beschwören der Regisseur und sein Kameramann Karl Hasselmann intensiv die Atmosphäre der nächtlichen Großstadt. Großartig sind auch die Kulissen von Karl Görge-Prochaska und Ludwig Meidner. Diese stellen der gepflegten bürgerlichen Wohnung markant den Wohnblock der Prostituierten gegenüber, der mit seinen verwinkelten und schrägen Kanten an den expressionistischen Klassiker "Das Cabinet des Doktor Caligari" erinnert.
Quasidokumentarisch wird der hektische Großstadtverkehr eingefangen, während das Tanzlokal oder ein Blick in ein Schaufenster mit Gemälden von mehr oder weniger unbekleideten Damen die Verlockungen der nächtlichen Stadt beschwören. Doch schon am Beginn wird hier das Beunruhigende spürbar, wenn bei der ersten Begegnung mit der Prostituierten deren junges Gesicht in einer Überblendung in einen Totenkopf übergeht und seltsame Augen an der Häuserfront die Menschen zu überwachen scheinen.
Grune schuf aber mit "Die Straße" nicht nur den Prototypen des Weimarer Straßenfilms, sondern hat auch mit der Geschichte des biederen Bürgers, der den Verlockungen der Großstadt verfällt und dafür fast mit dem Leben bezahlt, auch das Vorbild für zahlreiche spätere Filme von Fritz Langs "The Woman in the Window" ("Gefährliche Begegnung", 1944) bis zu Martin Scorseses "After Hours" ("Die Zeit nach Mitternacht", 1985) geschaffen.
Der vom Filmmuseum München restaurierte Klassiker besticht dabei ebenso durch seine Bildqualität wie Toni Attenbergers 67-minütiger Informationsfilm "Gefahren der Großstadtstraße". In kurzen, teilweise dokumentarischen Aufnahmen, teilweise nachgestellten Szenen und fiktiven Episoden wird darin nicht nur Einblick in die Gefahren der Straße geboten, sondern auch aufgezeigt, wie man sich davor schützen kann.
Der Bogen spannt sich vom Tipp zum richtigen Besteigen der Straßenbahn, über gefährliche Kinderspiele bis zu unterschiedlichen Formen von Bettelei und verschiedenen Betrügern und Dieben sowie Schutzmaßnahmen dagegen. Manches wie eine Warnung vor den Gefahren von Bananenschalen, vor einem Zopfabschneider oder Tipps zum diebstahlsicheren Tragen von Handtaschen wirkt dabei aus heutiger Sicht amüsant oder auch slapstickhaft, doch insgesamt ist der ernste und belehrende Ton des Films immer noch spürbar.
An Sprachversionen bietet die in der Edition Filmmuseum erschienene DVD neben der Originalfassung mit deutschen Zwischentiteln englische Untertitel. Gewählt werden kann auch jeweils zwischen einer stummen Fassung und einer mit einer neuen Filmmusik von Günter A. Buchwald und Frank Bockius bei "Die Straße. Der Film einer Nacht" und von Richard Siedhoff bei "Gefahren der Großstadtstraße".
Die Extras beschränken sich auf ein 16-seitiges Booklet mit einem Beitrag von Stefan Drößler, der ausführliche Hintergrundinformationen liefert, sowie zeitgenössischen Texten und Filmrezensionen. Dazu kommen eine englische Rezension und eine komprimierte englische Fassung von Drößlers Artikel.
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