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  • AutorenbildWalter Gasperi

Die Stadt ohne Juden


1924 als Satire gegen den Antisemitismus gedreht, nahm Hans Karl Breslauer retrospektiv betrachtet erschreckend visionär die zehn Jahre später einsetzende nationalsozialistische Judenverfolgung vorweg. Bei absolut Medien ist der Stummfilm in restaurierter Fassung in sehr guter Bildqualität und mit einer großartigen Musik von Olga Neuwirth auf DVD und Blu-ray erschienen.


Schon zwei Jahre nach Erscheinen des Romans von Hugo Bettauer kam Hans Karl Breslauers Verfilmung in die Kinos. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten verschwand der Stummfilm aber und galt über Jahrzehnte als verschollen. Erst 1991 wurden Fragmente entdeckt und, als 2015 ein Filmsammler auf einem Pariser Flohmarkt weitere Teile fand, die dem Filmarchiv Austria übergeben wurden, wurde eine Crowdfunding-Kampagne initiiert, um die aufwändige Restaurierung zu finanzieren.


Die Handlung spielt in den 1920er Jahren in einem fiktiven Staat Utopia, hinter dem freilich unschwer Österreich zu erkennen ist. Dokumentarisch wirken die Szenen von Demonstrationen, in denen gegen die Arbeitslosigkeit protestiert, gleichzeitig belastet die galoppierende Inflation, für die laut Bevölkerung die Gier der Spekulanten schuld ist, den Staat schwer. Den ausgelassenen Festen dieses Geldadels stellt Breslauer markant die Not der einfachen Leute gegenüber.


Rasch hat man in den Juden die Schuldigen für die Krise gefunden und fordert ihre Ausweisung. Zwar werden auch ihre Leistungen im künstlerischen Bereich erwähnt, aber vor allem werden sie als Banker und führende Wirtschaftskräfte angegriffen. Bei Wirtshausdiskussionen steigert sich der Antisemitismus, der Bischof fordert den Bundeskanzler zwar zu Menschlichkeit auf, schweigt aber, als dieser einem Gesetz zur Ausweisung der Juden zustimmt, da man das Volk zufriedenstellen müsse.


Genau geregelt ist, wer gehen muss und wer bleiben darf, Paare werden auseinander gerissen, erst Nachkommen, die in der zweiten Generation Christen sind, gelten als Arier. – Beklemmend wird so vorweggenommen, was elf Jahre später mit den Nürnberger Rassengesetzen Realität wurde.


Breslauer wechselt geschickt zwischen der allgemeinen Situation und individuellen Schicksalen, fokussiert auf einem durch den Antisemitismus getrennten Paar aus dem Dienstpersonal ebenso wie aus einem aus dem gehobenen Bürgertum. – Auch Abschiedsszenen an Bahnhöfen und die rollenden Züge erinnern unweigerlich an den nationalsozialistischen Genozid.


Der gewünschte Aufschwung stellt sich in Utopia aber nicht ein, denn ausländische Kredite bleiben bald aus, der Umsatz im vornehmen Modegeschäft geht zurück, die Besucher in der Konditorei bleiben aus. Satirisch schildert Breslauer den Niedergang der Kultur, wenn bald statt Pariser Mode Trachtenkleidung verkauft und die Konditorei zur Bierhalle umgebaut wird.


Trotz der klaren Kritik am Antisemitismus werden aber auch Klischeebilder von Juden bedient. Da gibt es den armen Ostjuden ebenso wie den gebildeten städtischen Wiener Juden und auch mit dem Bild vom im Dunkeln die Fäden ziehenden Juden wird gespielt, wenn der ausgewiesene Leo inkognito zurückkehrt und mit einer heimlichen Flugblattaktion für die Aufhebung des Gesetzes Stimmung macht.


Nicht nur die antisemitische Stimmung im Wien der 1920er Jahre verarbeitet Breslauer aber, sondern orientiert sich auch an konkreten historischen Personen. Als Vorbilder für den Bundeskanzler gelten so der deutschnationale Kanzler und Außenminister Johann Schober sowie der christlich-soziale Bundeskanzler Ignaz Seipel, während im Wiener Bürgermeister Laberl, der heuchlerisch nach Aufhebung des Gesetzes einen Rückkehrer mit "Mein lieber Jude" begrüßt, unschwer der antisemitische christlich-soziale Bürgermeister Karl Lueger zu erkennen ist.


Die Inszenierung ist freilich ziemlich statisch. Wenig wird mit der Kamera und mit Montage gearbeitet, Zwischentitel nehmen viel Raum ein. Visuell ragt einzig eine finale Szene heraus, in der ein antisemitischer Politiker, der von Hans Moser gespielt wird, in ein Irrenhaus eingeliefert wird, dessen Zelle mit ihren schiefen Ebenen und schrägen Wänden unübersehbar von "Das Cabinet des Dr. Caligari" inspiriert ist.


Sehr gut ist aber die Bildqualität und Clou des Films ist zweifellos die neue Musik von Olga Neuwirth, die vom Ensemble intercontemporain eingespielt wurde. Mit dissonanten Tönen, vielfältiger Mischung von Bruchstücken aus Heurigenliedern, Jodlern, religiösen Klängen und Dialogfetzen bis hin zu beunruhigend anschwellender Musik, wenn der Unmut des Volkes sich steigert oder die Ausweisung beschlossen wird, lässt Neuwirth immer schon das Wissen um den folgenden realen Holocaust mitschwingen und damit dieses einzigartige visionäre Filmdokument in Dialog mit der Geschichte treten.


An Sprachversionen bieten die bei absolut Medien erschienene DVD und Blu-ray deutsche Zwischentitel sowie englische und französische Untertitel. Als Extra gibt es ein Booklet mit einem speziell dafür verfassten Text von Elfriede Jelinek sowie einem Text von Olga Neuwirth zu ihrer Filmmusik.


Trailer zu "Die Stadt ohne Juden"



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