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  • AutorenbildWalter Gasperi

Diagonale 2019: Wildes und widerständiges Kino

Aktualisiert: 20. Apr. 2019


Die großen Diagonale-Preise des Landes Steiermark gingen mit Sara Fattahis "Chaos" im Bereich Spielfilm und Nathalie Borgers "The Remains – Nach der Odysseee" an zwei Filme, die sich mit Flüchtlingsschicksalen beschäftigen. Wie wild und exzentrisch ein Spielfilm auch heute noch sein kann, zeigten dagegen Kelly Copper und Pavol Liska mit ihrer Adaption von Elfriede Jelineks Roman "Die Kinder der Toten". Einen intensiven Trip bot aber auch Peter Brunners "To the Night" und großartiges Gespür für Bild- und Tongestaltung demonstrierte Gregor Schmidinger mit seinem Langfilmdebüt "Nevrland".


Als besten österreichischer Spielfilm zeichnete die Jury den Filmessay "Chaos" aus, in dem Sara Fattahi drei Frauen porträtiert, die nach traumatischen Kriegserfahrungen in Damaskus teils in der Heimat teils in der Fremde wieder einen Weg ins Leben finden müssen, mit dem mit 21.000 Euro dotierten Großen Diagonale-Preis des Landes Steiermark aus.

In der Kategorie Dokumentarfilm geht der Preis an "The Remains – Nach der Odyssee", in dem Nathalie Borgers einerseits eine in Wien lebende syrische Familie porträtiert, die auf der Flucht 13 Familienangehörige verloren hat und für die Auffindung und Identifizierung der im Mittelmeer ertrunkenen Angehörigen kämpft, andererseits auf die Flüchtlingsinsel Lesbos blickt.


In behutsamer und ruhiger Beobachtung, bei der sich die Regisseurin zurückhält, wird der Raum ganz der syrischen Familie und den Bewohnern der griechischen Inseln überlassen, die von traumatischen Erfahrungen mit in Seenot geratenen Flüchtlingen berichten, ans Ufer geschwemmte Habseligkeiten von Ertrunkenen einsammeln oder die Friedhöfe mit anonymen Gräbern pflegen. Eindringlich und bewegend vermittelt Borgers gerade durch diese leise Inszenierung die Traumatisierung der Hinterbliebenen und macht – ausgehend von einem Zitat aus der "Antigone" des Sophokles – die Bedeutung einer würdigen Bestattung bewusst.


Aber nicht nur im Bereich des Dokumentarfilms (siehe diesen Bericht) gab es starke Filme zu entdecken, sondern auch aufregende Spielfilme fehlten nicht. Dass die Diagonale dabei nicht mit Zeitströmungen schwimmen will, machte schon der Festivaltrailer von Johann Lurf bewusst, der eindringlich vor Hetze, sozialer Kälte und Nationalismus warnt.


Ein finsteres Bild von Österreich zeichnet auch die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in ihren Romanen. Die Amerikaner Kelly Copper und Pavel Liska haben deren 1995 erschienenen Roman "Die Kinder der Toten", da es ihn nicht in englischer Übersetzung gibt, nie gelesen, sondern nur sich den Inhalt erzählen lassen. Dies aber ist noch die kleinste Schrägheit dieser "Literaturverfilmung", denn das New Yorker Nature Theater of Oklahoma – der Name bezieht sich auf eine Kapitelüberschrift von Franz Kafkas unvollendetem "Amerika"-Roman – hat unter Coppers/Liskas Regie Jelineks Roman als stummen Super-8-Film mit Zwischentiteln adaptiert.


Besetzt wurden die Rollen mit Laienschauspielern aus der Obersteiermark, in der Jelinek ihre Kindheit verbrachte und in der auch der Film gedreht wurde. Zentraler Schauplatz ist ein Dorfgasthof, auf dessen Besucher Copper/Liska mit einem Biss blicken, der an die Filme Erich von Stroheims erinnert. Als es bei einer Tour für die Gäste zu einem Unfall kommt, kehren bald die lebenden Toten zurück, während gleichzeitig einige syrische Poeten im Gasthof um Aufnahme bitten und ein Förster vom Geist seiner beiden Söhne, die Selbstmord begingen, verfolgt wird.


Bewusst trashig mit Lust am Amateurhaften ist das inszeniert, knüpft mit der Rückkehr der Toten an Herk Harveys Low-Budget Kultfilm "Carnival of Souls" an, der zu Jelineks Lieblingsfilmen zählt, ist aber auch ein böser Kommentar zur österreichischen Verdrängungskultur.


Denn bald wird auch die Witwe eines Nazis in einer stillgelegten Fabrik im Cinema 666, dessen Name sich sowohl auf Satan als auch auf die Seitenzahl von Jelineks Buch beziehen kann, eine geheime Filmvorführung abhalten, bei der sich unter einen Heimatfilm auch Nazi-Offiziere mischen und die Zuschauer Rotz und Wasser heulen, bis die Leinwand in Flammen aufgeht und die Toten ins Kino vordringen.


Folgen wird schließlich ein grotesker Totentanz im Gasthof, bei dem eine Tochter schließlich auch gegen die Übermutter – ein aus Jelineks "Die Klavierspielerin" bekanntes Motiv – aufbegehren wird, und die Syrer die Gäste mit ihren Speisen erfreuen werden.

Auf Dialoge verzichten Copper/Liska zwar, doch alles andere als stumm ist der Film, denn brillant ist das Sounddesign mit Musik von Wolfgang Mitterer und Geräuschen. Höchst einfallsreich sind auch die Zwischentitel, denn sie liefern nicht nur die Dialoge, sondern auch Kommentare zu den Figuren oder Hinweise ans Publikum.


Nichts zu tun mit herkömmlichem Kino hat das, aber wie hier alle Grenzen überschritten werden, das kann diesen höchst exzentrischen Film für Zuschauer, die sich darauf einlassen zu einem ungemein unterhaltsamen und lustvollen, schwarzhumorigen Vergnügen machen.

Wie dieser Film von Ulrich Seidl produziert wurde, so steht auch bei Peter Brunners amerikanisch-österreichischer Koproduktion "To the Night" Seidl als Koproduzent dahinter. Auch das ist kein Film, der dem braven europäischen Subventionskino entspricht, sondern bietet einen wilden Trip ins Innenleben eines traumatisierten New Yorker Künstlers.


Psychisch labil und von Medikamenten abhängig schwankt der Protagonist zwischen liebevollem Umgang mit Frau und Baby und Ausbrüchen von Aggressivität, die ein Familienleben schwer machen. Um das Trauma zu verarbeiten, das der Verlust seiner Eltern durch einen Brand auslöste, versucht er das Ereignis künstlerisch nochmals zu inszenieren, macht aber auch dabei tragische Erfahrungen.


Statt rund eine Geschichte zu erzählen, zieht Brunner mit abrupter Szenenfolge und Stimmungswechsel, vor allem aber mit großer Nähe zu den physisch ungemein präsenten Darstellern, die intensiv in Großaufnahmen die Gefühle ihrer Figuren ausagieren können, den Zuschauer in die psychische Verfassung des von Caleb Landry Jones mit großem Einsatz gespielten Protagonisten hinein und reißt ihn mit.


Ruhiger und geradliniger erzählt Gregor Schmidinger in seinem Langfilmdebüt "Nevrland". Auch im Mittelpunkt dieses Films steht ein junger Mann, der aufgrund Erfahrungen in der Kindheit mit seinem Leben (noch) nicht zurechtkommt. Zunehmend stärker wird nämlich der 17-jährige Jakob von Panikattacken verfolgt. Immer wieder brechen so Gedanken an den Job im Schlachthaus und Internet-Chats auf Gay-Seiten in die Realität herein und führen zu zunehmender Destabilisierung.


Schmidinger beweist ein großartiges Gespür für visuelle und akustische Gestaltung, erzählt konsequent aus der Perspektive des von Simon Frühwirth stark gespielten Protagonisten und versetzt den Zuschauer so in dessen Welt, verfällt allerdings gegen Ende vielleicht auch etwas der Lust am Spiel mit den Realitätsebenen und verliert über den Effekt das Schicksal von Jakob aus den Augen.


Ein vielversprechendes Debüt ist das aber auf jeden Fall und gerne würde man noch mehr und öfter aus Österreich so aufregendes, wildes und mutiges Kino sehen, wie es mit "Die Kinder der Toten", "To the Night" und "Nevrland" geboten wird.

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