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  • AutorenbildWalter Gasperi

Der Gang in die Nacht


Lange lag Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm-Melodram nur in verstümmelter Fassung vor, nun ist in der Edition Filmmuseum auf DVD eine digital restaurierte Fassung erschienen, die nicht nur durch die brillante Bildqualität besticht. Neben „Der Gang in die Stadt“ enthält die Doppel-DVD auch Lupu Picks „Scherben“, zu dem ebenso wie zu Murnaus Film Carl Mayer das Drehbuch schrieb.


Als „Eine Tragödie in fünf Akten“ kündet der Untertitel Murnaus 1920 entstandenes Frühwerk an. Von Beginn an zeichnet sich diese ab, wenn der Arzt Börne zwar beruflich erfolgreich ist, seine Verlobte Helene aber vernachlässigt. Als er mit ihr eine Kabarettvorstellung besucht, verliebt sich die Varieté-Tänzerin Lily auf den ersten Blick in ihn. Um Kontakt zu knüpfen, täuscht sie einen Sturz und eine Fußverletzung vor, sodass Börne in ihre Garderobe kommt, um sie zu untersuchen.


Rasch erobert Lily Börnes Herz und er verlässt Helene, um die Tänzerin zu heiraten und mit ihr von der Stadt an die Küste zu ziehen. Doch das Glück währt nicht lange, denn bald vermisst die lebenslustige Lily das Stadtleben. Als Börne einen blinden Maler heilt, verfällt dieser Lily und bald erliegt sie seinem Werben. Helene dagegen kommt nie über die Trennung von Börne hinweg und fällt in eine immer tiefere Depression, doch auch Lily wird mit dem Maler nicht glücklich, denn bald erblindet dieser wieder, sodass sie den von ihr verlassenen Börne aufsucht, damit er ihren Geliebten ein zweites Mal heilt.


Carl Mayers Drehbuch besticht durch den kompakten und geradlinigen Aufbau, Murnaus Regie durch Schnörkellosigkeit, knappe Szenen und souveräne Beherrschung des Tempos. Je nach Bedarf erzählt er bald ausführlich, bald arbeitet er mit großen Ellipsen. Den Raum überlässt er dabei ganz den Schauspielern, vermittelt den Aufruhr ihrer Gefühle aber auch geschickt durch Landschaftsaufnahmen vom brausenden Meer oder eines tobenden Sturms.


Gleichzeitig weist der Film aber auch schon auf spätere Werke des deutschen Meisterregisseurs voraus. Vom Zerbrechen einer Beziehung durch eine verführerische Frau ebenso wie vom Land-Stadt-Gegensatz wird er auch sechs Jahre später in dem in Hollywood gedrehten „Sunrise“ erzählen und der blinde Maler erinnert in seiner steifen Haltung und seinen abgehackten Bewegungen stark an den Vampir in „Nosferatu“.


Man sieht das Unheil schon kommen, wenn dieser wie der personifizierte Tod mit einem Ruderboot übers Meer kommt und die Einstellung zudem noch durch einen schwarzen Bogen gerahmt wird. Auf spektakuläre Kameraeinstellungen, Perspektiven und Lichteffekte verzichtet Murnau ansonsten und legt das Drama als realistisches Kammerspiel an. Die Zwischentitel sind aufs Nötigste reduziert, verbale Informationen werden dafür auch über Ausschnitte aus Zeitungen oder Briefe vermittelt. Man spürt den Drang möglichst in Bildern zu erzählen und auf das Wort zu verzichten.


Bestechend ist nicht nur die Bildqualität der vom Filmmuseum München unter der Leitung von Stefan Drößler rekonstruierten Fassung, sondern auch die neue von Richard Siedhoff komponierte Orchestermusik überzeugt. Siedhoff orientiert sich an der Stummfilmmusik der 1920er Jahre, zielt nicht auf moderne Brüche ab, sondern will den Film so wirken lassen, wie er wohl bei der Uraufführung aufs Publikum wirkte.


An Sprachversionen bietet die in der Edition Filmmuseum erschienene DVD die deutsche Originalfassung sowie englische und französische Untertitel. Als Extras gibt es die 30-minütige Dokumentation „Musik für Murnau“, die die Produktion der Filmmusik, aber auch die Rekonstruktion des Films beleuchtet.


Mit einem einzigen Zwischentitel kommt Lupu Pick in seinem 1921 erschienenen Kammerspielfilm „Scherben“ aus, der sich auf der zweiten DVD findet. Auch Pick erzählt ein düsteres Drama, in dem die Ankunft eines Inspektors die abgelegen lebende Familie eines Bahnwärters ins Verderben stürzt. Bald verführt nämlich der Inspektor die Tochter des Hauses. Als die Frau des Bahnwärters dies entdeckt, flieht sie verzweifelt in den verschneiten Wald und erfriert vor einem Kruzifix. Der Inspektor will aber von der Tochter bald nichts mehr wissen, worauf diese ihrem Vater die Hintergründe des Tods der Mutter erzählt.


Geradlinig erzählt Pick, kommt weitgehend mit nur vier Personen aus und akzentuiert die Handlung immer wieder mit symbolischen Bildern. Das beginnt mit zerspringendem Glas und den daraus resultierenden titelgebenden Scherben am Beginn, setzt sich fort mit dem Kruzifix am Waldrand, das im Kreuzmuster eines Fensterrahmens oder in einem Kreuz an einer Wand wieder aufgenommen wird, bis hin zur Szene, in der sich der Inspektor nach dem Tod der Mutter die Hände wäscht, ein Moment, der unübersehbar ausdrücken soll, dass er sich unschuldig fühlt.


Wie in „Der Gang in die Nacht“ spielen auch hier Mayer und Pick mit dem Gegensatz von Stadt und Land, wenn dem vornehm gekleideten Inspektor der ungepflegte Bahnwärter gegenübergestellt wird und wenn am Schluss die gehobene Gesellschaft im Speisewagen ungerührt weiterfeiert: Ungerührt bleibt die Öffentlichkeit angesichts des Schicksals Einzelner.


An Sprachversionen bietet auch diese DVD die deutsche Originalfassung sowie englische und französische Untertitel. An Extras bietet die Doppel-DVD wie gewohnt bei der Edition Filmmuseum ein sehr informatives und fundiertes Booklet mit Beiträgen von Stefan Drößler zur zeitgenössischen Rezeption der beiden Filme, von Richard Siedhoff zur Musik zu „Der Gang in die Nacht“ und von Christian Roderburg zur Musik zu „Scherben“, Analysen der beiden Filme durch Werner Sudendorf sowie englische Anmerkungen zu beiden Filmen.

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