In starken Bildern erzählt die Mongolin Zoljargal Purevdash in ihrem ungeschönten Sozialdrama von einem Teenager, der im eisigen Winter von Ulaanbaatar sich einerseits um seine beiden jüngeren Geschwister kümmern und sich andererseits auf einen wichtigen Physik-Wettbewerb vorbereiten muss.
Die kräftigen Farben in der Jurte, eine pinke Jacke und Mütze oder grüne Turnschuhe strahlen zwar Wärme aus, doch über die klirrende Kälte, die in der mongolischen Hauptstadt Ulaanbaatar im Winter herrscht, können sie nicht hinwegtäuschen. Fast spürbar sind die 20 bis 30 Minusgrade, wenn man immer wieder den Atem der Menschen dampfen sieht und eine mächtige Dunstglocke über der Stadt hängt.
Weltweit die schlechteste Luftqualität herrscht in der zwischen Bergen in einer Senke liegenden 1,5 Millionen Einwohner:innen zählenden Metropole. Verantwortlich dafür ist vor allem das Jurtenviertel, in dem rund 60% der Einwohner:innen von Ulaanbaatar leben. Hier verbrennen nämlich die vom Land zugezogenen Menschen während der Wintermonate in ihren Öfen rund 600.000 Tonnen Rohkohle zum Heizen und Kochen.
Auch der 15-jährige Ulzii (Battsooj Uurtsaikh) wohnt mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern in einer Jurte. Auf der Suche nach Arbeit hat der inzwischen verstorbene Vater die Familie hierhergebracht, jetzt lebt sie am Existenzminimum, denn die alkoholkranke Mutter ist kaum zum Arbeiten fähig, sodass Ulzii wesentlich zum Unterhalt beitragen muss.
Als die mit ihrem jüngsten Kind aufs Land zurückkehrt, um auf dem Feld zu arbeiten, weigert sich Ulzii mitzukommen und bleibt mit seinen zwei anderen Geschwistern in Ulaanbaatar. Sein Physiklehrer hat nämlich die große Begabung des Teenagers entdeckt, fördert ihn und will ihn zu einem nationalen Wettbewerb schicken, bei dem als Preis ein Stipendium winkt.
Gleichzeitig muss sich Ulzii, aus dessen Perspektive konsequent erzählt wird, aber auch um seine Geschwister kümmern. Er muss nicht nur Kohle und Holz auftreiben, um zu heizen, sondern muss mit seinem Bruder wegen eines schweren Hustens aufgrund der Luftverschmutzung zum Arzt und teure Medikamente kaufen. – Kein Wunder ist es so, dass sich Ulziis kleiner Bruder wünscht einen Winterschlaf wie ein Bär zu halten, um diese frostige Zeit einfach zu verschlafen.
So verbindet Zoljargal Purevdash in ihrem Spielfilmdebüt eine Schulgeschichte im Stil von "Good Will Hunting" mit einem rauen Sozialdrama, das in der Verantwortung, die Ulzii für seine Geschwister übernehmen muss, an Hirokazu Kore-Edas "Nobody Knows" erinnert. Inhaltlich bringt "Wenn ich nur Winterschlaf halten könnte" damit zwar kaum Neues, entwickelt aber sowohl durch den unverbrauchten Schauplatz als auch durch die bestechende Bildsprache große Dichte und Kraft.
Denn so bedrückend auch die Verhältnisse sind, so schön sind doch immer wieder die Bilder von Kameramann Davaanyam Delgerjargal, verklären aber nie die Härte der Situation. Die Debütantin lässt nämlich ihren von Battsooj Uurtsaikh stark gespielten Protagonisten in eine scheinbar unaufhaltsame Abwärtsspirale geraten.
So reicht bald das Geld nicht mehr zum Kauf der Kohle, sodass er seine trendigen Turnschuhe ebenso wie später den Fernseher verkaufen muss. Geht er zunächst noch mit einer Freundin Eislaufen, bleibt später keine Zeit mehr dafür und lehnt er es zunächst noch ab Holz zu stehlen, wird er später im Wald illegal Bäume fällen, statt die Schule zu besuchen.
Unaufgeregt und nüchtern erzählt Purevdash, dramatisiert nicht und setzt auch Musik nur reduziert ein. Aber gerade durch diese trockene Erzählweise, in der die Not nie breit ausgestellt wird, bewegt dieses Drama. Trotz der realistisch-ungeschönten Schilderung der beklemmenden sozialen Verhältnisse verfällt der Film aber nie in Verzweiflung und Pessimismus.
Denn still und leise feiert Purevdash auch den Zusammenhalt und die gegenseitige Fürsorge der Geschwister und die Solidarität der Schwachen. Da versucht nämlich die kleinere Schwester ihren Bruder zu entlasten und ihm den Schulbesuch zu ermöglichen, indem sie auf den Straßen Armbändchen verkauft, und ein alter Nachbar unterstützt immer wieder so gut wie möglich die Kinder. Wenig Vertrauen scheint die Regisseurin dagegen in staatliche Maßnahmen zu haben, wenn sie eine Behörde einen Rauchfilter liefern lässt, obwohl doch die Kohle zum Heizen und auch der Strom zum Betreiben des Filters fehlt.
Geprägt von persönlichen Erfahrungen erzählt Purevdash aber auch eindrücklich von der Bedeutung der Bildung als einzigem Weg aus der Armutsfalle. Auch sie selbst wuchs nämlich als Tochter einer alleinerziehenden Mutter in Ulaanbaatars Jurtenviertel auf. Um ihre Zukunftschancen zu erhöhen, schickte die Mutter sie trotz bescheidener finanzieller Möglichkeiten auf eine Privatschule.
Dort erhielt sie schließlich ein Stipendium, um Filmregie in Tokio zu studieren. Dennoch hat sie ganz offensichtlich den Bezug zu ihren Wurzeln nicht verloren und nach zwei Kurzfilmen, die ebenfalls in Ulaanbaatar spielen, mit "Wenn ich doch Winterschlaf halten könnte" ihren Wunsch Geschichten zu erzählen, die in ihrem Land spielen, aufs Schönste erfüllt.
Wenn ich nur Winterschlaf halten könnte – If Only I Could Hibernate
Mongolei / Frankreich / Schweiz / Katar 2023
Regie: Zoljargal Purevdash
mit: Battsooj Uurtsaikh, Batmandakh Batchuluun, Tuguldur Batsaikhan, Nominjiguur Tsend, Ganchimeg Sandagdorj, Batzorig Sukhbaatar
Länge: 96 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und Skino Schaan.
Trailer zu "Wenn ich nur Winterschlaf halten könnte – If Only I Could Hibernate"
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