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  • AutorenbildWalter Gasperi

Les Misérables – Die Wütenden


Drei Polizisten auf Streife im Pariser Banlieue Montfermail. – Der gebürtige Malinese Ladj Ly macht daraus in seinem in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichneten Spielfilmdebüt ein vor Spannung vibrierendes, hochenergetisches quasidokumentarisches Drama, das den Zuschauer die ethnischen Spannungen, das aggressive Klima, die Anspannung und den Rassismus der Polizisten und die sich sukzessive steigernde Wut hautnah miterleben lässt.


In jeder Szene von „Les Misérables – Die Wütenden“ spürt man, dass der 1978 geborene Ladj Ly weiß wovon er erzählt. Er ist selbst im Pariser Vorort Montfermail aufgewachsen, hat die Schauspieler teilweise dort auf der Straße gefunden und selbstverständlich vor Ort gedreht. Enorme Authentizität entwickelt dieses Spielfilmdebüt dadurch, während die zupackende und direkte Inszenierung für mitreißende Kraft und Intensität sorgt.


Hier gibt es keine Distanz, keine Reflexion, sondern mitten ins Geschehen wird der Zuschauer geworfen. Immersion ist das Ziel Lys, hautnah miterleben soll man die Verhältnisse in diesem Banlieue, die seit Mathieu Kassovitz „La haine - Hass“ (1995) wohl kein Film mehr so packend und aufwühlend schilderte. Auf Hintergrundinformationen wird verzichtet, fast zur Gänze auf einen Tag beschränkt sich die Handlung, die Spannungen innerhalb der Bewohner und die sich steigernden Konflikte mit der Polizei sind die einzigen Themen.


Den Titel hat Ly von Victor Hugos 1862 erschienenem Roman „Les Misérables“, der ebenfalls in Montfermail spielt, übernommen. In dem von 1815 bis 1832 spielenden Klassiker ist Monfermail zwar noch ein kleines Dorf, aber auch hier gärt die Wut der armen Bewohner gegen die Oberschicht im nahen und reichen Paris – und entlädt sich schließlich im Juniaufstand von 1832. Ein Zitat aus Hugos Roman hat Ly ans Ende seines Films gestellt: „Merkt Euch, Freunde! Es gibt weder Unkraut noch schlechte Menschen. Es gibt bloß schlechte Gärtner.“


Eint in der ersten Szene noch der Sieg Frankreichs bei der Fußball WM 2018 die Nation, wenn die Massen mit umgehängter Trikolore begeistert auf den Champs-Élysées feiern, so werden bald die Risse, Brüche und Spannungen spürbar. Aus der Perspektive von zwei erfahrenen Polizisten, die mit dem Neuzugang Stéphane, durch Montfermail patrouillieren, lässt Ly den Zuschauer auf die sozialen und ethnischen Verhältnisse blicken.


Auf der Straße spielt sich das Leben ab, atmosphärisch dicht und authentisch wird das Milieu eingefangen, nur das Finale führt in einen desolaten Hochhausblock. Mit beweglicher Handkamera und dynamischem Schnitt ist Ly hautnah an seinen Figuren dran, während dazwischen immer wieder Aufnahmen mit einer Drohen einen Überblick über das von verwahrlosten Hochhaussiedlungen bestimmte Viertel vermitteln.


Mit dem Neuling Stéphane nimmt der Zuschauer erschüttert den Rassismus und die Übergriffigkeit des aggressiven Chris wahr, wenn dieser junge Frauen, die an einer Bushaltestelle stehen, schikaniert und seine Macht ausspielt, bietet aber auch Einblick in die ethnischen Spannungen zwischen Schwarzafrikanern, einer Gruppe Roma, die einen Wanderzirkus führt, sowie einer Muslim-Bruderschaft.


Keine Zukunftsperspektiven bietet dieses Umfeld für Kinder. Mehrfach schon wurde der etwa zwölfjährige Issa offensichtlich verhaftet, doch als aus dem Zirkus ein Löwenjunges gestohlen wird, droht das Pulverfass zu explodieren. Schleunigst muss dieses gefunden werden, doch als die drei Polizisten Issa verhaften wollen, leisten die ihn begleitenden Jugendlichen Widerstand, bis sich ein Schuss löst und die Lage weiter eskaliert.


Auf Schwarzweißmalerei verzichtet Ly, der sich von persönlichen Erfahrungen und den Unruhen inspirieren ließ, die 2005 in Montfermail ausbrachen, nachdem zwei Teenager auf der Flucht vor der Polizei umgekommen waren. Diese Ereignisse hatte der 42-Jährige schon damals in der Langzeitdoku „365 Tage in Clichy-Montfermail“ geschildert und 2017 dann im Kurzfilm „Les Misérables“ verarbeitet.


Den Stress und die Anspannung der Polizisten macht Ly ebenso erfahrbar wie die sich steigernde Wut vor allem der jungen Bewohner des Viertels. Keine Chance hat schließlich auch der selbsternannte schwarze Bürgermeister, der zu vermitteln versucht, gegen die Jugendlichen, die sich in ihrer Wut zusammenschließen.


Weder um Ursachenforschung noch um Lösungsvorschläge geht es hier, im Zentrum steht die aufwühlende Zustandsbeschreibung, die durch ein sorgfältig aufgebautes Drehbuch zunehmend dichtere und schließlich kaum zu ertragende Spannung entwickelt.


Kaum etwas erfährt man über das Privatleben der drei Polizisten. Nur eine Szene zeigt, dass der rassistische Chris eine Frau und zwei Töchter hat, der schwarze Gwada bei seiner Mutter lebt und der Neuling Stéphane offensichtlich einen Sohn hat, aber von seiner Frau getrennt lebt.


Da mag Chris zwar im Viertel seine Macht als Polizist demonstrieren und erklären "Das Gesetz bin ich", letztlich erscheint er doch ebenso als Opfer dieser Verhältnisse wie die Bewohner. Auf explizite Schuldzuweisung wird verzichtet, doch implizit prangert Ly unübersehbar und scharf das Versagen der Politiker an, die im Sinne Hugos die schlechten Gärtner sind.


Läuft derzeit im St. Galler Kinok und wird vom 27. bis 29.2. vom TaSKino Feldkirch im Kino Rio gezeigt


Trailer zu "Les Misérables - Die Wütenden"


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