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  • AutorenbildWalter Gasperi

61. Viennale: Weibliche Blicke auf Ausbeutung und Unterdrückung

Aktualisiert: 29. Okt. 2023


Sudabeh Mortezai bietet in ihrem Spielfilm "Europa" am Beispiel einer Managerin eines internationalen Konzerns, die in Albanien die Basis für ein neues Werk schaffen soll, Einblick in die Gespaltenheit Europas ebenso wie in Ausbeutung. Helin Çelik lässt dagegen in ihrem experimentellen Dokumentarfilm "Anqa" drei durch häusliche Gewalt traumatisierte jordanische Frauen zu Wort kommen.


Gibt es heuer mehr Presse-Akkreditierte an der Viennale oder wurden die Kartenkontingente reduziert? Schwierig ist es nämlich vielfach für die "großen Filme", die im Gartenbaukino, das immerhin über mehr als 700 Plätze verfügt, Karten zu bekommen. Jeweils zwei Tage vor Spieltermin werden die Presse-Tickets um 10 Uhr freigeschaltet, doch schon rund eine Minute später ist das Kartenkontingent für Filme wie Yorgos Lanthimos "Poor Things", Alexander Paynes "The Holdovers", Andrew Haighs "All of Us Strangers" oder Victor Erices "Cerrar los ojos", der in der Urania gezeigt wird, erschöpft und man wird auf Resttickets an der Abendkasse verwiesen.


Da kann man sich dann zwar 30 Minuten vor Filmbeginn auf eine Warteliste setzen lassen und hat mit einem vorderen Listenplatz gute Chancen doch noch ein Ticket zu bekommen, aber insgesamt doch unsicher und nicht gerade angenehm und zudem auch zeitaufwändig ist diese Variante der Ticketbeschaffung. So weicht man vielfach auf "kleinere Filme" aus, für die man leichter Karten bekommt.


Ein Beispiel dafür ist die Österreich-Premiere von Sudabeh Mortezais "Europa". In ihrem dritten Spielfilm erzählt die iranischstämmige Österreicherin von einer deutschen Managerin (Lilith Stangenberg) eines internationalen Konzerns, die in Albanien den Aufbau eines neuen Werks vorbereiten soll.


Erscheint diese Beate Winter zunächst durchaus als sympathisch, wenn auch gönnerhaft überlegen, wenn sie an der albanischen Universität ein Förderprogramm für einheimische Studentinnen vorstellt, so ändert sich diese Einschätzung sukzessive. Zunehmend rücksichtslos versucht sie nämlich bei ihren Besuchen der Landbevölkerung, die Interessen ihrer Firma durchzusetzen und die Bauern zum Verkauf ihres Landes zu bewegen. Stehen nämlich am Beginn ein finanziell lukratives Angebot und der Hinweis, dass der Verkauf doch zum Wohle der Kinder sei, folgen bald Drohungen und Einschüchterungen.


Wie schon bei Mortezais Spielfilmdebüt "Macondo", in dem es um tschetschenische Kinder in Österreich ging, und in "Joy", der Menschenhandel und das Schicksal afrikanischer Prostituierter in Österreich thematisierte, ist auch die Stärke von "Europa" das Zusammenspiel von professionellen Schauspieler:innen und Laien. Authentisch wirken die Einblicke, die in das von Traditionen und patriarchalen Strukturen geprägte Landleben geboten werden, sehr natürlich agieren die einheimischen Laien.


Zu diesen Qualitäten, in der die Herkunft Mortezais vom Dokumentarfilm spürbar ist, kommt die differenzierte Schilderung der Strategien des Konzerns, der die Spaltung Europas ebenso wie die Ausbeutung und Zerstörung alter Strukturen durch das reiche Mittel- und Westeuropa sichtbar macht. Doch so sorgfältig das gemacht ist, so trägt "Europa" doch auch seine Botschaft zu sehr vor sich her, will ein Film zu einem Thema sein, bleibt dabei aber auch sehr brav und entwickelt nicht eine filmische Durchschlagskraft, die beim Publikum eine nachhaltende Wirkung auslösen könnte.


Ungleich radikaler setzt sich die in Österreich lebende Kurdin Helin Çelik in ihrem experimentellen Dokumentarfilm "Anqa" mit ihrem Thema auseinander. Auf schmale schwarzweiße Gefängnisgänge folgen hier bald Close-ups der Hand einer alten Frau, von der die Kamera von Raquel Fernández Núñez zum Gesicht fährt und durch die Nähe jede Warze und jede Hautpore sichtbar macht.


Teils im Voice-over, teils in bruchstückhaften Interviews erzählen drei anonym bleibende jordanische Frauen vorwiegend in Profilaufnahmen von ihren Erfahrungen häuslicher Gewalt, aber auch von ihrer Auflehnung dagegen und der darauf folgenden gesellschaftlichen Ausgrenzung bis zu den traumatischen Nachwirkungen.


Die Enge der in warmes Braun getauchten Räume, die der Film nur einmal verlässt, und die extreme Nähe der Close-ups von Gesichtern, Händen oder einer Tischdecke machen die Beklemmung erfahrbar, während die Erzählungen ruhig dahinfließen. Nicht viel gibt es in diesem formal radikalen Film zu sehen, aber die Ausführungen der Frauen lassen ihre Erfahrungen und ihre Gefühle vor dem inneren Auge lebendig werden.


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