Ab 27.1. Streaming bei filmingo: Die Brasilianerin Anna Muylaert blickt in ihrem 2015 entstandenen, vierten Spielfilm mit viel Witz und Sympathie für die Unterschicht auf die sozialen Gegensätze zwischen weißen Hausherren und indigener Haushälterin und lässt letztere sich unter dem Einfluss ihrer Tochter emanzipieren. Hinreißend in der Hauptrolle Regina Casé.
Vor über zehn Jahren hat die dunkelheutige Val ihr Kind im Norden Brasiliens zurückgelassen, Sandra als zweiter Mutter zur Erziehung überlassen und ist nach Sao Paulo gezogen. Seit damals ist sie dort Haushälterin bei einer reichen Familie, dem Intellektuellen und Künstler Carlos und der Geschäftsfrau Dona Barbara. Den 18-jährigen Fabinho hat weitgehend Val erzogen, hat emotionaleren Kontakt zu ihm als seine leibliche Mutter, ist für ihn zur zweiten Mutter geworden.
Irgendwie gehört Val fast zur Familie, aber wenn es ans Eingemachte geht, sind die Grenzen zwischen Herren und Dienerin doch klar gezogen: Sie schläft in einem kleinen Zimmer in dem modernen Haus, hält sich in der Küche auf, während das Esszimmer und vor allem der dortige Tisch für sie Tabu sind. Dort serviert sie zwar die Mahlzeiten, hört die Gespräche der Familie aber von der Küche aus. Sie bekommt klare Aufträge und auch einen Verweis, wenn sie ein neues schwarzweißes Kaffeeservice nicht wie gewünscht fürs Strandhaus herrichtet, sondern bei der Geburtstagsparty von Dona Barbara verwendet.
Zentrale Rolle im Film spielt aber auch der Swimmingpool: Wie Val ihn in der den Film eröffnenden Szene nicht betrat, sondern nur den kleinen Fabinho zum Schwimmen reinschickt, so ist er auch zehn Jahre später noch Tabuzone, Freizeitstätte der Herrenschicht.
Ein Problem hat Val mit ihrer Rolle aber nicht, hat sie ganz verinnerlicht, sieht das Machtgefälle als selbstverständlich oder gottgewollt an. So könnte es wohl bis zu ihrer Pensionierung weitergehen, doch dann meldet sich ihre Tochter Jessica an, die gleich alt wie Fabinho ist und in Sao Paolo Architektur studieren will.
Kein Problem ist es für Dona Barbara, dass Jessica zunächst mal in ihrem Haus wohnt, bis man eine Wohnung gefunden hat. Freut sich Val zunächst über das Wiedersehen mit ihrer Tochter, so blickt sie bald zunehmend konsternier und, verärgert auf deren selbstbewusstes Auftreten.
Von Joseph Losey kennt man das Motiv des Fremden, der in ein geschlossenes System kommt und die Beziehungen aufmischt. Ähnlich fungiert hier Jessica als Katalysator. Sie setzt sich nämlich ganz selbstverständlich an den Esstisch mit Don Carlos, will auch Fabinhos Eiscreme statt die einfache, fürs Personal vorgesehene, fragt frech, ob sie nicht im freien Gästezimmer statt auf einer Matratze in der Kammer Vals schlafen kann, macht mit Carlos einen Ausflug und landet schließlich auch mit Fabinho und dessen Freund im Pool. – Wie zuhause benimmt sie sich zum Entsetzen ihrer Mutter eben und wird deshalb schließlich aufgefordert rasch eine Wohnung zu suchen.
Als Jessica aber wie Fabinho bei der Aufnahmeprüfung fürs Architekturstudium antritt und im Gegensatz zu ihm die Aufnahme schafft, fühlt Val zwar mit beiden mit und leidet mehr mit Fabinho als seine Mutter, ist aber auch unglaublich stolz auf ihre Tochter. Bewusst wird ihr hier auch, wie sich die unterdrückte Unterschicht mit Bildung erheben kann, und löst sich aus der Dienerrolle.
Weitgehend auf die Beobachtung des Alltags konzentriert sich Anna Muylaert, deren eigenes Kindermädchen sie zu diesem Film inspirierte und das auch selbst eine kleine Rolle spielt. Bestechend deckt sie Abhängigkeiten und die mehr oder weniger deutliche Arroganz der Herren gegenüber ihrem Personal auf. Vorzüglich aufgebaut ist die Handlung mit der Entwicklung von völlig verinnerlichter Dienerrolle, Kontrastierung dieser mit der selbstbewussten Tochter und als Synthese die Selbstbefreiung aus der Dienerrolle im dritten und finalen Akt.
Gespiegelt wird in dieser privaten Geschichte freilich auch der gesellschaftliche Wandel in Brasilien, der im Wandel des Stadtbilds von Sao Paulo hereinspielt. Zufall ist hier auch nicht, dass Jessica gerade Architektur studieren will, glaubt sie doch an die soziale und die Gesellschaft ändernde Funktion von Architektur.
Getragen wird der Film von einer präzisen Inszenierung und einem ausgezeichneten Ensemble. Jede Rolle ist hier ideal besetzt, starke Gegenpole werden mit Val und ihrer Tochter, aber auch mit dem Dienstpersonal und der Herrenschicht aufgebaut. Angeführt werden die Schauspieler dabei von einer fulminanten Regina Casé als Val, die man einfach ins Herz schließen muss. Zuzusehen, wie sie sich von der Rolle der Dienerin befreit, die ganz selbstverständlich und durchaus nicht missmutig, sondern mit Freude ihre Haushaltstätigkeit verrichtet, und sich langsam erhebt, ist ein pures Vergnügen.
So ist Muylaert mit "The Second Mother" ein gesellschaftskritischer Film gelungen, der sein Anliegen nicht vor sich her trägt, sondern in eine hervorragend erzählte und sehr menschliche Geschichte verpackt und aus ihr und den Figuren heraus entwickelt. – So entsteht bestens unterhaltendes und gleichzeitig engagiertes Kino, das den Zuschauer mit einem Lachen und dem Glauben an die Möglichkeit der Veränderung der Dinge aus dem Kino entlässt.
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Trailer zu "The Second Mother"
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